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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2016 — 2017

DOI chapter:
D. Antrittsreden, Nachrufe, Organe und Mitglieder
DOI chapter:
I. Antrittsreden
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Beßlich, Barbara: Antrittsrede vom 23. April 2016
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55652#0288
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Antrittsrede von Barbara Beßlich

deutsches Phänomen beschrieben worden. Auch Georg Bollenbecks Referenz-
werk setzt zwar mit Rousseau ein, aber erzählt im Folgenden die Geschichte der
Kulturkritik als eine vornehmlich deutsche Angelegenheit. Dabei lässt sich die
Entwicklung der Kulturkritik im 19. und frühen 20. Jahrhundert auch als eine
Kontaktgeschichte zwischen den Nationen perspektivieren. Daran arbeiten wir
derzeit.
Neben der Kulturkritik interessiert mich auch die Narratologie. Mit Frei-
burger Kollegen hatte ich eine erzähltheoretisch orientierte Tagung veranstaltet
zu Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989. Daher war es
für mich äußerst gewinnbringend als Fellow im Heidelberger Marsilius Kolleg an
diese Erzählforschungen anzuknüpfen und gemeinsam mit meiner Kollegin Vera
Nünning anglistische und germanistische narratologische Konzepte miteinander
zu vergleichen. Auch innerhalb einer Germanistischen Institutspartnerschaft mit
der Budapester Universität ELTE, die vom DAAD gefördert wird, stehen narrato-
logische Fragen im Mittelpunkt meiner Arbeit.
Ebenfalls aus Freiburg mitgebracht habe ich ein Faible für die Wiener Mo-
derne. In meiner Dissertation galt ein Kapitel dem umtriebigen Literaturkritiker
Hermann Bahr, mit Achim Aurnhammer durfte ich eine Konferenz zu Arthur
Schnitzler und der Film veranstalten. Nächstes Jahr richte ich hier in Heidelberg
die 19. Internationale Tagung der Hugo von Hofmannsthal-Gesellschaft aus. Mo-
mentan schreibe ich eine Monographie über das Junge Wien im Alter. Das „Junge
Wien“ gilt als eine ästhetisch innovative Gruppe innerhalb der klassischen Mo-
derne. In den rezenten Literaturgeschichten wird ihre dichterische Bedeutsamkeit
meist zwischen 1890 und 1910 datiert. Aber auch nach 1910 schreiben die Autoren
der Wiener Moderne weiter, parallel zum Expressionismus und der Neuen Sach-
lichkeit. Mediale Erweiterungen (Operette, Kino) interessieren mich dabei ebenso
wie auch Intensivierungen religiöser Fragestellungen (bei Richard Beer-Hofmann
und Felix Salten) und politische Stellungnahmen (bei Leopold von Andrian und
Hugo von Hofmannsthal). Als Spätwerke gegen das Chaos gesetzt, hadern diese
Texte mit dem Untergang der Monarchie, mit sozialen Verschiebungen im Bürger-
tum und der neuen geopolitischen Kartierung Europas nach dem Ersten Weltkrieg.
Damit kommen zwei Bedeutungskomponenten von „Spätwerk“ zusammen: Es
geht sowohl um das individuelle Alterswerk von bestimmten Autoren als auch um
das epochale Auslaufen einer literarischen Phase. Dabei ist es nicht meine Absicht,
einem aufregenden „Avantgardismus der Greise“ nach zu stöbern, wie es Adorno
einst für den „Spätstil Beethovens“ reklamiert hat. Im Gegenteil frage ich, wie sich
die ehemalige Dichtergruppe des „Jungen Wien“ ästhetisch verhält, nachdem sie
von den nachfolgenden Strömungen in Acht und Bann der intellektuellen Irre-
levanz getan wurde und aus dem Blickfeld der Literaturgeschichte verschwindet.
Abseits der Avantgarde, im Windschatten der Moderne imaginieren diese Dich-
ter in chaotischen Zeiten Gegenordnungen, die Themen und Schreibweisen der

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