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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 21): Schriften zur Universitätsidee — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51221#0085
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Die Idee der Universität [1923]

austreten, sondern in der Welt wirken und Wirkungen erfahren will. Aber geistig sind
nicht alle Arten menschlicher Beziehungen, nicht die bloße Geselligkeit, die Formen
und Mechanisierungen des Verkehrs, der an sich ziellos und oberflächlich ist. Geistig
sind nicht die Institutionen, Organisationen, der Betrieb in jeder Gestalt; alles dieses
kann Werkzeug des Geistes sein, der sie übergreift; damit diese Werkzeuge geistig funk-
tionieren, muß in ihnen etwas Lebenswarmes, Erfülltes, Menschliches, Kraft, Reibung
und Kampf bleiben. Alle Apparate der menschlichen Gemeinschaften entspringen ir-
gendwo aus dem Geiste, aber sie können des Geistes schnell verlustig gehen. Der Geist
ist lebendig auch bei umfassender Organisation immer nur in der Beziehung vom Ein-
zelnen zum Einzelnen. Nicht die Beziehung auf ein Publikum, nicht die Beziehung auf
die Masse ist geistig, sondern die Beziehung zum einzelnen Menschen und diese in
dem Maße, als sie nicht Zeitvertreib, Gewohnheit ist, sondern eindringend, infrage-
stellend, kämpfend und liebend, wachsend und sich entfaltend, als sie nicht ein Zu-
stand und ein Festes, sondern ein Prozeß ist.
Da der Geist nichts vergißt, will er Tradition, d.h. stetigen und allseitigen Zusam-
menhang mit dem Geiste der Vorfahren. Er will sich des Erworbenen bemächtigen,
nicht um sich ihm unterzuordnen, sondern um die breitesten Voraussetzungen der
Kommunikation und des Werdens zur Totalität zu gewinnen. Zur Kommunikation mit
den anderen lebendigen Gestalten des Selbst und zur Kommunikation mit den Vorfah-
ren und den historischen Gestalten des Geistes kommt die Kommunikation mit sich
selbst, der ständige innere Prozeß der Selbstreflexion, Selbstprüfung, Selbstdurchleuch-
tung, der so wenig wie irgendein anderer Kommunikationsprozeß ans Ende kommt.9
Die mannigfaltigen Entartungsformen wird man mit diesen ursprünglichen geistigen
Kräften nicht verwechseln, z.B. die gewohnheitsmäßige Geselligkeit, die ihre Formen
benutzt, damit die Menschen innerlich nicht zueinander kommen und sich gegensei-
tig unangetastet lassen; das scholastische bloße Lernen von Vergangenem, die eitle
Selbstbespiegelung oder die leere nervöse Selbstquälerei in eintönigen Zirkelbewegun-
gen ohne Prozeß.
6 | Das geistige Selbst ist nicht die individualistische Subjektivität, nicht die Züch-
tung der eigenen Besonderheit, es ist auch nicht Zerfließen im Ganzen einer sozialen
Gemeinschaft, eines gedanklichen Systems, einer erregten Masse. Das geistige Selbst
ist vielmehr immer ein Werden unter der Idee einer Synthese des subjektiven Selbst und
des objektiven Ganzen und Allgemeinen. Die Persönlichkeit, geistig verstanden, als ide-
ales Selbst, ist weder individualistisch noch universalistisch, sondern beides. Sie vertei-
digt jeweils die Seite, welche ihr genommen werden soll. Aber vor allem: da sie als em-
pirisches Einzelwesen diese Synthese nie endgültig sein kann, ist sie überhaupt nicht,
sondern ist beständig im Werden. Der Geist verschwindet, wenn der Prozeß still steht.
Diese Synthese in einem Prozesse, die nie vollendet immer im Werden ist, ist ent-
scheidend. Der Geist ist weder etwas Objektives noch etwas Subjektives, sondern bei-
des. Geistig ist das Subjektive, das objektiv, d.h. allgemein wird, und an ein Ganzes sich
 
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