Die Idee der Universität [1923]
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sönliches und ein geistiges Schicksal sind, und der schematischen Lebensläufe, so be-
stehen in der Wirklichkeit natürlich Übergänge, partikulare Verwirklichungen, Abbie-
gungen, Ansätze. Die selbständige geistige Persönlichkeit existiert unter Bedingungen,
besonders ökonomischer und soziologischer Art, und sie erscheint dadurch geformt in
mannigfachen Gestalten. Die selbständige Triebkraft und schaffende Energie der Ein-
zelnen ist zwar zu allen Zeiten, überall wo Menschen leben, faktisch wirksam, aber das
Selbstbewußtsein des Einzelnen, das bewußte Ergreifen persönlichen Schicksals ist an
einzelne Epochen gebunden. Und nur selten erscheinen die Riesenmenschen, die zu
Beginn individualistischer Zeitalter so plötzlich und zahlreich auftauchen. Der Zerfall
gebundener Zeitalter6? ist eine Hauptphase des Auftretens selbständiger und selbstbe-
wußter, schöpferischer Persönlichkeiten. Ein hohes Maß von Geistigkeit ist als selbst-
verständliche Tradition schon da. Gegen diese und zugleich von ihr lebend ist dann
der geistige Einzelne die Grenze, ein Letztes, das zwar aus eigener Substanz, aber doch
zugleich nur geweckt durch das Zersprengen eines Gehäuses, durch das Abwerfen und
Überwinden von Bindungen existiert, die vorher dagewesen sein müssen. Solche Er-
wägungen sind nur ein Beispiel vieler möglicher. Greifbarer ist die ökonomische Be-
dingtheit des Einzelnen, ob er als selbständiger Aristokrat, als wandernder Bettler, als
Handwerker, als Hauslehrer, als Rhetor, Literat oder wie sonst lebt. Die Fülle des hier Er-
forschbaren lehrt uns eines: Willensmäßig, durch bewußte Organisation, können wir
keine Persönlichkeiten entstehen lassen.68 Ihre Bedingungen sind grenzenlos mannig-
faltig, eine Ursache, die sie notwendig entstehen ließe, kennen wir nicht, und es ist an-
zunehmen, daß es eine solche nicht gibt. Daher ist wünschbar, daß in allem Organi-
sierten, soziologisch und ökonomisch Zwangsläufigen, möglichst viele Lücken bleiben,
dadurch Möglichkeiten für den Einzelnen, wenn auch unter Entbehrungen, überhaupt
ein gewähltes Schicksal zu ergreifen, statt bloße Unausweichlichkeiten ertragen zu müs-
sen. Glücksfälle sind etwas Letztes, Unentbehrliches. Breite Schichten mit einem Exi-
stenzminimum und einer gewissen Muße, Pfründen, Beamtenstellungen, Mäzene usw.
eröffnen Möglichkeiten, keine dieser Möglichkeiten eine Sicherheit.
| Die geistige Schöpfung und Existenz des Einzelnen ist in größter Gefahr, wirkungs-
los zu vergehen. Dieses Dasein bedarf der Aufnahme in eine bewußte Tradition, in ein
Wissen, damit es nicht allein »unmittelbar zu Gott« in seinem wesentlichen Werte be-
steht, sondern auch den Nachfahren, den Anderen Weckung, Lehre, Gegenstand wird.
Wissenschaftliche Leistungen im besonderen sind zudem gebunden an materielle Mit-
tel, die dem Einzelnen selten zur Verfügung stehen und an Zusammenarbeit vieler, die
nur durch eine gewisse dauernde Institution ermöglicht wird. Es bilden sich Gruppen
unter einem verehrten Führer, es werden zweckbewußte Organisationen geschaffen,
und so gibt es wieder sehr mannigfache dem Geiste dienende Institutionen: Schulen,
Kirchen, Akademien, Universitäten, Bibliotheken, Sammlungen usw.
Solche Institutionen sind Bedingung einer geistigen Tradition. In ihnen dient der
Einzelne einem Ganzen. Nun wird das Ganze wichtiger, der Einzelne bloßes Glied, in
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sönliches und ein geistiges Schicksal sind, und der schematischen Lebensläufe, so be-
stehen in der Wirklichkeit natürlich Übergänge, partikulare Verwirklichungen, Abbie-
gungen, Ansätze. Die selbständige geistige Persönlichkeit existiert unter Bedingungen,
besonders ökonomischer und soziologischer Art, und sie erscheint dadurch geformt in
mannigfachen Gestalten. Die selbständige Triebkraft und schaffende Energie der Ein-
zelnen ist zwar zu allen Zeiten, überall wo Menschen leben, faktisch wirksam, aber das
Selbstbewußtsein des Einzelnen, das bewußte Ergreifen persönlichen Schicksals ist an
einzelne Epochen gebunden. Und nur selten erscheinen die Riesenmenschen, die zu
Beginn individualistischer Zeitalter so plötzlich und zahlreich auftauchen. Der Zerfall
gebundener Zeitalter6? ist eine Hauptphase des Auftretens selbständiger und selbstbe-
wußter, schöpferischer Persönlichkeiten. Ein hohes Maß von Geistigkeit ist als selbst-
verständliche Tradition schon da. Gegen diese und zugleich von ihr lebend ist dann
der geistige Einzelne die Grenze, ein Letztes, das zwar aus eigener Substanz, aber doch
zugleich nur geweckt durch das Zersprengen eines Gehäuses, durch das Abwerfen und
Überwinden von Bindungen existiert, die vorher dagewesen sein müssen. Solche Er-
wägungen sind nur ein Beispiel vieler möglicher. Greifbarer ist die ökonomische Be-
dingtheit des Einzelnen, ob er als selbständiger Aristokrat, als wandernder Bettler, als
Handwerker, als Hauslehrer, als Rhetor, Literat oder wie sonst lebt. Die Fülle des hier Er-
forschbaren lehrt uns eines: Willensmäßig, durch bewußte Organisation, können wir
keine Persönlichkeiten entstehen lassen.68 Ihre Bedingungen sind grenzenlos mannig-
faltig, eine Ursache, die sie notwendig entstehen ließe, kennen wir nicht, und es ist an-
zunehmen, daß es eine solche nicht gibt. Daher ist wünschbar, daß in allem Organi-
sierten, soziologisch und ökonomisch Zwangsläufigen, möglichst viele Lücken bleiben,
dadurch Möglichkeiten für den Einzelnen, wenn auch unter Entbehrungen, überhaupt
ein gewähltes Schicksal zu ergreifen, statt bloße Unausweichlichkeiten ertragen zu müs-
sen. Glücksfälle sind etwas Letztes, Unentbehrliches. Breite Schichten mit einem Exi-
stenzminimum und einer gewissen Muße, Pfründen, Beamtenstellungen, Mäzene usw.
eröffnen Möglichkeiten, keine dieser Möglichkeiten eine Sicherheit.
| Die geistige Schöpfung und Existenz des Einzelnen ist in größter Gefahr, wirkungs-
los zu vergehen. Dieses Dasein bedarf der Aufnahme in eine bewußte Tradition, in ein
Wissen, damit es nicht allein »unmittelbar zu Gott« in seinem wesentlichen Werte be-
steht, sondern auch den Nachfahren, den Anderen Weckung, Lehre, Gegenstand wird.
Wissenschaftliche Leistungen im besonderen sind zudem gebunden an materielle Mit-
tel, die dem Einzelnen selten zur Verfügung stehen und an Zusammenarbeit vieler, die
nur durch eine gewisse dauernde Institution ermöglicht wird. Es bilden sich Gruppen
unter einem verehrten Führer, es werden zweckbewußte Organisationen geschaffen,
und so gibt es wieder sehr mannigfache dem Geiste dienende Institutionen: Schulen,
Kirchen, Akademien, Universitäten, Bibliotheken, Sammlungen usw.
Solche Institutionen sind Bedingung einer geistigen Tradition. In ihnen dient der
Einzelne einem Ganzen. Nun wird das Ganze wichtiger, der Einzelne bloßes Glied, in
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