Die Idee der Universität [1923]
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die günstigsten Bedingungen für deren Forschung, Kommunikation und Lehre gibt.
Jede Verwirklichung einer Idee in Institutionen führt zu einer Schwächung und Ein-
schränkung der Idee. Die Institution, ihre Gesetze und Formen drängen sich vor und
können dazu führen, daß die Idee ganz verschwindet und etwa nur ein scholastischer
Betrieb übrigbleibt. Es ist unvermeidlich, daß eine gewisse Spannung zwischen den
lebendigen Forscherpersönlichkeiten und den institutionellen Formen eintritt, die,
solange die Idee der Universität am Leben bleibt, zu einer fortwährenden, langsa-
men Umformung der Formen führen muß. Zeiten des Beharrens wechseln mit Zei-
ten neuer Impulse ab.
Das Neue und Schöpferische entsteht zuerst in häufigen Fällen außerhalb der Uni-
versitäten, wird von dieser zunächst abgelehnt, dann aber assimiliert, so daß es die
Herrschaft gewinnt. Der Renaissancehumanismus entstand außerhalb und gegen die
scholastischen Universitäten. Als dann die Universitäten humanistisch, dann phi-
lologisch geworden waren, entstand die philosophische und naturwissenschaftli-
che Erneuerung im 17. Jahrhundert wieder | außerhalb (Descartes, Spinoza, Leib-
niz, Pascal, Galilei, Kepler). Als die Philosophie in der Gestalt des Wolffianismus91
in die Universität gedrungen war, entstand der Neuhumanismus wieder außerhalb
(Winckelmann, Lessing, Goethe), eroberte dann aber schnell durch große Philo-
logen (F.A. Wolf) die Universität. Auch kleinere Neuerscheinungen entstehen nicht
selten außerhalb und werden von der offiziellen Universitätswissenschaft lange abge-
lehnt, so früher die marxistische Soziologie, so Vorjahrzehnten der Hypnotismus,92
der jetzt längst ein anerkanntes Tatsachengebiet darstellt, oder die Graphologie,93
die eben erst anfängt, an der Universität beachtet zu werden, die verstehende Psy-
chologie,94 wie sie von Kierkegaard und Nietzsche und anderen entfaltet wurde.
J. Grimm schreibt (Kl. Sehr. Bd. I, S. 242): »An Universitäten herrscht eine ansehnli-
che Buchgelehrsamkeit, die sich hebt und fortträgt, aber ungewöhnliche Arbeiten,
ehe sie Geltung erlangt haben, vorläufig abweist. Universitäten sind Gartenanlagen,
die ungern etwas wild wachsen lassen.«95 Wenn eine neue geistige Richtung geschaf-
fen ist, so bemächtigt sich irgendwann die Universität derselben und bringt sie zur
Entwicklung in vielen einzelnen Leistungen, Entdeckungen, Erweiterungen; und sie
bewahrt das Gewonnene zugleich als Lehrgut. Das letztere kann sie aber ihrer Idee
entsprechend nur, wenn sie selbst forschend darin voranschreitet. So geschah es im-
mer wieder auf den deutschen Universitäten. Diese haben auch einige Male, und zwar
in entscheidenden Fällen, selbst das Neue ursprünglich in Bewegung gebracht. Die
größte Erscheinung ist die KANTische Philosophie, dann die in deren Gefolge auf-
tretende Philosophie des deutschen Idealismus. Im 19. Jahrhundert sind die histori-
schen und die Naturwissenschaften fast in allem Neuen von der Universität abhän-
gig gewesen.
Die Aufnahme des geistigen Erwerbs in die Tradition der Universität hat immer
auch die Tendenz, das Erworbene erstarren zu lassen, als endgültig, wenn auch nicht
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die günstigsten Bedingungen für deren Forschung, Kommunikation und Lehre gibt.
Jede Verwirklichung einer Idee in Institutionen führt zu einer Schwächung und Ein-
schränkung der Idee. Die Institution, ihre Gesetze und Formen drängen sich vor und
können dazu führen, daß die Idee ganz verschwindet und etwa nur ein scholastischer
Betrieb übrigbleibt. Es ist unvermeidlich, daß eine gewisse Spannung zwischen den
lebendigen Forscherpersönlichkeiten und den institutionellen Formen eintritt, die,
solange die Idee der Universität am Leben bleibt, zu einer fortwährenden, langsa-
men Umformung der Formen führen muß. Zeiten des Beharrens wechseln mit Zei-
ten neuer Impulse ab.
Das Neue und Schöpferische entsteht zuerst in häufigen Fällen außerhalb der Uni-
versitäten, wird von dieser zunächst abgelehnt, dann aber assimiliert, so daß es die
Herrschaft gewinnt. Der Renaissancehumanismus entstand außerhalb und gegen die
scholastischen Universitäten. Als dann die Universitäten humanistisch, dann phi-
lologisch geworden waren, entstand die philosophische und naturwissenschaftli-
che Erneuerung im 17. Jahrhundert wieder | außerhalb (Descartes, Spinoza, Leib-
niz, Pascal, Galilei, Kepler). Als die Philosophie in der Gestalt des Wolffianismus91
in die Universität gedrungen war, entstand der Neuhumanismus wieder außerhalb
(Winckelmann, Lessing, Goethe), eroberte dann aber schnell durch große Philo-
logen (F.A. Wolf) die Universität. Auch kleinere Neuerscheinungen entstehen nicht
selten außerhalb und werden von der offiziellen Universitätswissenschaft lange abge-
lehnt, so früher die marxistische Soziologie, so Vorjahrzehnten der Hypnotismus,92
der jetzt längst ein anerkanntes Tatsachengebiet darstellt, oder die Graphologie,93
die eben erst anfängt, an der Universität beachtet zu werden, die verstehende Psy-
chologie,94 wie sie von Kierkegaard und Nietzsche und anderen entfaltet wurde.
J. Grimm schreibt (Kl. Sehr. Bd. I, S. 242): »An Universitäten herrscht eine ansehnli-
che Buchgelehrsamkeit, die sich hebt und fortträgt, aber ungewöhnliche Arbeiten,
ehe sie Geltung erlangt haben, vorläufig abweist. Universitäten sind Gartenanlagen,
die ungern etwas wild wachsen lassen.«95 Wenn eine neue geistige Richtung geschaf-
fen ist, so bemächtigt sich irgendwann die Universität derselben und bringt sie zur
Entwicklung in vielen einzelnen Leistungen, Entdeckungen, Erweiterungen; und sie
bewahrt das Gewonnene zugleich als Lehrgut. Das letztere kann sie aber ihrer Idee
entsprechend nur, wenn sie selbst forschend darin voranschreitet. So geschah es im-
mer wieder auf den deutschen Universitäten. Diese haben auch einige Male, und zwar
in entscheidenden Fällen, selbst das Neue ursprünglich in Bewegung gebracht. Die
größte Erscheinung ist die KANTische Philosophie, dann die in deren Gefolge auf-
tretende Philosophie des deutschen Idealismus. Im 19. Jahrhundert sind die histori-
schen und die Naturwissenschaften fast in allem Neuen von der Universität abhän-
gig gewesen.
Die Aufnahme des geistigen Erwerbs in die Tradition der Universität hat immer
auch die Tendenz, das Erworbene erstarren zu lassen, als endgültig, wenn auch nicht
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