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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 21): Schriften zur Universitätsidee — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51221#0171
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Vom lebendigen Geist der Universität

Voraussetzungen, dann die Gehalte des gegenwärtigen Weltdaseins, unser Wissen und
Können sind anders geworden.
Zwar sagen wir mit Recht, daß wir die alten Aufgaben der Universität wieder rein
vor Augen bringen möchten: Wissenschaft und philosophische Besinnung; - geisti-
ges Leben im Kosmos der Wissenschaften; - verstehende Vergegenwärtigung aller uns
zugänglichen Gehalte; - unbedingte Wahrhaftigkeit und Menschlichkeit; - Schärfung
des Sinns für Recht und Gerechtigkeit; - Bezug auf den Gottesgedanken.
Aber in solcher Allgemeinheit ausgesprochen genügt das alles nicht. Wir sind nicht
mehr sicher, daß diese Worte von allen im gleichen Sinne aufgefaßt werden. Der Bo-
den einer gemeinsamen, im Dasein gesicherten Bildungswelt und das uns einigende
Selbstbewußtsein sind uns entglitten. Wir haben keinen Lebensgrund mehr in unse-
ren allgemeinen Zuständen. Wir stehen im Leeren.
206 Unausgesprochen leben wir innerlich oft noch auf | dem Boden, der zerbrochen
ist, dem Boden vor 1933 und vor 1914, so als ob noch eine selbstverständliche Basis für
uns da sei. Wir können uns, soweit das geschieht, vorkommen wie Gespenster einer
vergangenen Welt, die zusammenkommen und miteinander reden, als ob eigentlich
noch alles beim Alten sei: es ist zwar ein großes Unglück passiert, aber nun ist es vor-
bei, und wir fangen wieder da an, wo aufgehört worden war.
So ist es nun ganz und gar nicht. Die Phantasielosigkeit und die Blindheit für das
Wirkliche ist geistig unsere große Gefahr. Wir können nicht einfach mit dem guten
Alten fortfahren, als ob nur eine Unterbrechung gewesen wäre. Es ist eine neue Welt,
von der wir noch nicht wissen, ob und wie wir in ihr leben werden. Wir stehen in ei-
ner Not, die alles in sich hineinreißt. Daher sind die gegenwärtigen Aufgaben bestimmt
durch diese Not.
Ist diese Not nicht so übergroß, daß es besser ist, nur im Augenblick sich und dem
Andern zu helfen, wie man kann, die Not aber reflexionslos zu ertragen und im Gan-
zen verschleiert zu halten? Es gibt in der Tat diesen Weg des Schlafenwollens, des
Nichtdenkens, des Dranges in eine nur ermüdende Arbeit, nur um Ruhe zu haben vor
Bildern und Gedanken. Das aber ist ein schlimmer Weg, weil ohne innere Entwick-
lung. Aufgabe ist es vielmehr, diese Not nicht nur von außen zu erleiden und im glück-
lichen Falle baldmöglichst zu vergessen, sondern in unserem Innersten zur Geltung
kommen zu lassen. Wir müssen unsere Seele ihr aussetzen. Wir dürfen uns dem Unge-
heuren nicht entziehen, das über uns seit zwölf Jahren hereingebrochen ist, nicht
ohne daß in uns allen etwas lag und liegt, das dies möglich gemacht hat.
207 Vor dem Abgrund kann der Mensch zur Besinnung | kommen. In hellsichtigen Au-
genblicken werden die Keime der geistigen Entfaltung gelegt. Heute aber ist es, als ob
wir noch nicht imstande wären, die Not auch innerlich zu fassen, sondern nur äußer-
lich zu erleiden. Es ist wie eine Lähmung. Doch die Not, die nicht vernichtet, kann Ur-
sprung werden, wenn sie, die doch unumgänglich da ist, auch innerlich gewagt wird,
wenn wir durch sie zu den Fragen an den äußersten Grenzen gedrängt werden.
 
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