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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Schwabe AG [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 21): Schriften zur Universitätsidee — Basel: Schwabe Verlag, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51221#0187
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Die Idee der Universität [1946]

Zweitens ist wissenschaftliches Wissen als solches zwingend gewiß. Denn was ich
wissenschaftlich verstehe, ist schon für den bloßen Verstand einsichtig. Es ist rich-
tig als ein Bestehendes, das zu seiner Richtigkeit keines Einsatzes meines eigenen We-
sens bedarf. Das Gegenteil solcher Wißbarkeit ist die Überzeugung. Sie ist wahr nur
zugleich mit dem Einsatz der Person, die in ihr lebt. Daher konnte Galilei sinnvoller-
weise vor der Gewalt der Inquisition widerrufen (und der nach dem Widerruf der Erd-
bewegung getane Ausspruch: »aber sie bewegt sich doch«202 ist, wenn er auch nicht ge-
tan ist, sinngemäß erfunden: Galilei wußte, daß Widerruf an dieser Wahrheit nichts
ändert). Bruno203 dagegen entwickelte in einem ewig denkwürdigen Selbstüberwin-
dungsprozeß den Heroismus, der ihm bei gleichzeitiger Bereitschaft zu allen Wider-
rufen von nicht zentraler Art eine Verleugnung seiner philosophischen Grundüber-
zeugung unmöglich machte: es waren nicht wissenschaftlich zwingende Einsichten,
vielmehr solche, deren Wahrheit mit dem Preisgeben im Widerruf auch selbst aufge-
hoben worden wäre, sich jedoch im enthusiastischen Festhalten des Philosophen an
ihnen erst eigentlich bewies.
Drittens sind wissenschaftliche Einsichten allgemeingültig. Sie bewähren sich da-
durch, daß sie von jedem als zwingend erfahren werden können. Daher verbreitet sich
die wissenschaftliche Wahrheit auch faktisch überall hin, wo überhaupt wissenschaft-
lich gedacht wird. Diese Einmütigkeit in wissenschaftlichen Einsichten ist das Kenn-
zeichen der Allgemeingültigkeit. Das Gegenteil ist die Nichtallgemeingültigkeit der
philosophischen Überzeugungen. Man kann sagen: Die Unbedingtheit der Überzeu-
gung steht im Zusammenhang mit der Nichtallgemeingültigkeit (denn bestünde der
Inhalt der Überzeugung an sich, so brauchte er nicht meines Bezeugens); die Relativi-
tät der wissenschaftlichen Einsicht aber steht in Zusammenhang mit ihrer Allgemein-
gültigkeit (denn Forschung wäre nicht in der zu ihr gehörenden Bewegung des Fort-
schreitens, wenn zwingendes Wissen auch absolutes Wissen wäre).

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| 2. Engerer und weiterer Begriff von Wissenschaft

Dieser Begriff von Wissenschaft, so einfach er ist, hat sich nur langsam verwirklicht
und ist immer in Gefahr. Seine Herausarbeitung ist eine bis heute nicht vollendete Be-
wegung.
Die Wissenschaft ist noch nicht das Denken überhaupt, das schon in der ersten
Vergegenständlichung beginnt, ist noch nicht die Intellektualisierung des Gedachten
in den Zusammenhängen logischer Schlußketten, ist noch nicht die rationale Ord-
nung von Begriffen und Erscheinungen. Sondern Wissenschaft entsteht erst mit der
scharfen Abgrenzung innerhalb des weiten Bereichs des Denkens überhaupt gegen-
über dem nicht wissenschaftlichen Wissen. Die positiven Charaktere dieser Wissen-
schaft, die sich in den Schritten ihrer Entfaltung seit dem 14. Jahrhundert wiederholt
nova scientia204 nannte, sind folgende:
 
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