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Die Idee der Universität [1946]
Aber die Wissenschaft der Theologie verfährt anders. Sie denkt unter der Voraus-
setzung der Existenz jener Offenbarung. Sie spricht aus, was darin liegt und was dar-
aus folgt. Sie entwickelt Denkformen, das Unaussprechliche aussagbar zu machen.
Sowohl jene weltliche Erklärung wie die theologische Deutung verfahren unter
24 Voraussetzungen. Wenn sie rein verfahren, schließen sie sich gegenseitig nicht aus.
Beide sind Versuche des Denkens, die mit Voraussetzungen arbeiten und sehen, wo-
hin und wie weit sie damit kommen.
Wissenschaftlich bleiben beide, solange sie offen für das andere sind, oder solange
sie selbstkritisch wissen, daß alles Erkennbarsein ein Sein im Sein, niemals das Sein ist.
Wenn wir um die Bindung aller Wissenschaft an Voraussetzungen wissen, so ist es
wichtig, zugleich zu klären, was nicht Voraussetzung ist, aber oft fälschlich als solche
gilt. Es ist nicht notwendige Voraussetzung der Wissenschaft, daß die Welt im ganzen
erkennbar ist, oder daß die Erkenntnis das Sein selbst trifft, oder daß das Erkennen ir-
gendwo absolut ist in dem Sinne, daß es voraussetzungslose Wahrheit enthalte oder
bringe. Das Gegenteil von allem diesem zeigt sich der philosophischen Besinnung auf
die Grenzen des Wissens.
Nicht Voraussetzung ist weiter eine dogmatisch formulierte Weltanschauung.34 Im
Gegenteil: Wissenschaft ist nur, soweit eine solche Weltanschauung nicht als absolute
Voraussetzung wirksam ist, oder wenigstens nur soweit als Geltung darin erreicht wird,
welche unabhängig von jener Weltanschauung besteht, oder sofern im Denken diese
ganze Weltanschauung nur als eine Hypothese dieser Denkversuche behandelt wird.
Angesichts des Lärms, mit dem seit Jahrzehnten die Voraussetzungslosigkeit der
Wissenschaften (welche von keinem kritischen Forscher behauptet wurde) bestritten
ist, ist es vielleicht gehörig, auf die Verführung zu weisen, die in dieser Weise, die Vor-
aussetzungsbelastung der Wissenschaften zu betonen, liegt. Der Sinn geht hierbei all-
zuschnell von aller Wissenschaft fort auf jene Voraussetzungen, die ihrerseits dogma-
tisch werden. Gute Leute, aber schlechte Musikanten,220 die in Wissenschaften nichts
leisten und Wissenschaften nicht methodisch studieren, verwerfen, was sie gar nicht
kennen. Sie wollen statt Wissenschaft etwas ganz anderes: Politik, Kirche, Propaganda
für dunkle Leidenschaften. Statt liebend bei der Sache zu sein und konkret zu forschen,
überlassen sie sich einem schlechten Philosophieren73 im allgemeinen Gerede über das
Ganze.
Unter den Voraussetzungen der Wissenschaft ist die für ihr Leben wichtigste die
Führung. Daß Wissenschaft überhaupt der Führung bedarf, ist oft vergessen worden.
| 6. Wissenschaftbedarf der Führung
25
Wenn Wissenschaft sich selbst überlassen wird, gerät sie in eine Verwahrlosung. Eine
Weile kann sie wohl scheinbar aus sich vorangehen, wenn sie einmal - aus tieferem
Ursprung - in Gang gebracht worden ist. Alsbald aber zeigen sich die Sinnwidrigkei-
Die Idee der Universität [1946]
Aber die Wissenschaft der Theologie verfährt anders. Sie denkt unter der Voraus-
setzung der Existenz jener Offenbarung. Sie spricht aus, was darin liegt und was dar-
aus folgt. Sie entwickelt Denkformen, das Unaussprechliche aussagbar zu machen.
Sowohl jene weltliche Erklärung wie die theologische Deutung verfahren unter
24 Voraussetzungen. Wenn sie rein verfahren, schließen sie sich gegenseitig nicht aus.
Beide sind Versuche des Denkens, die mit Voraussetzungen arbeiten und sehen, wo-
hin und wie weit sie damit kommen.
Wissenschaftlich bleiben beide, solange sie offen für das andere sind, oder solange
sie selbstkritisch wissen, daß alles Erkennbarsein ein Sein im Sein, niemals das Sein ist.
Wenn wir um die Bindung aller Wissenschaft an Voraussetzungen wissen, so ist es
wichtig, zugleich zu klären, was nicht Voraussetzung ist, aber oft fälschlich als solche
gilt. Es ist nicht notwendige Voraussetzung der Wissenschaft, daß die Welt im ganzen
erkennbar ist, oder daß die Erkenntnis das Sein selbst trifft, oder daß das Erkennen ir-
gendwo absolut ist in dem Sinne, daß es voraussetzungslose Wahrheit enthalte oder
bringe. Das Gegenteil von allem diesem zeigt sich der philosophischen Besinnung auf
die Grenzen des Wissens.
Nicht Voraussetzung ist weiter eine dogmatisch formulierte Weltanschauung.34 Im
Gegenteil: Wissenschaft ist nur, soweit eine solche Weltanschauung nicht als absolute
Voraussetzung wirksam ist, oder wenigstens nur soweit als Geltung darin erreicht wird,
welche unabhängig von jener Weltanschauung besteht, oder sofern im Denken diese
ganze Weltanschauung nur als eine Hypothese dieser Denkversuche behandelt wird.
Angesichts des Lärms, mit dem seit Jahrzehnten die Voraussetzungslosigkeit der
Wissenschaften (welche von keinem kritischen Forscher behauptet wurde) bestritten
ist, ist es vielleicht gehörig, auf die Verführung zu weisen, die in dieser Weise, die Vor-
aussetzungsbelastung der Wissenschaften zu betonen, liegt. Der Sinn geht hierbei all-
zuschnell von aller Wissenschaft fort auf jene Voraussetzungen, die ihrerseits dogma-
tisch werden. Gute Leute, aber schlechte Musikanten,220 die in Wissenschaften nichts
leisten und Wissenschaften nicht methodisch studieren, verwerfen, was sie gar nicht
kennen. Sie wollen statt Wissenschaft etwas ganz anderes: Politik, Kirche, Propaganda
für dunkle Leidenschaften. Statt liebend bei der Sache zu sein und konkret zu forschen,
überlassen sie sich einem schlechten Philosophieren73 im allgemeinen Gerede über das
Ganze.
Unter den Voraussetzungen der Wissenschaft ist die für ihr Leben wichtigste die
Führung. Daß Wissenschaft überhaupt der Führung bedarf, ist oft vergessen worden.
| 6. Wissenschaftbedarf der Führung
25
Wenn Wissenschaft sich selbst überlassen wird, gerät sie in eine Verwahrlosung. Eine
Weile kann sie wohl scheinbar aus sich vorangehen, wenn sie einmal - aus tieferem
Ursprung - in Gang gebracht worden ist. Alsbald aber zeigen sich die Sinnwidrigkei-