Die Idee der Universität [1946]
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| 7. Wissenschaft als Bedingung aller Wahrhaftigkeit 28
Wissenschaft enthüllt die Täuschungen, mit denen ich mir das Leben leichter machen,
mit denen ich den Glauben ersetzen oder gar den Glauben selbst in die Garantie eines
Gewußtseins verwandeln möchte. Sie vertreibt die Verschleierungen, mit denen ich
geneigt bin, mir Wirklichkeiten zu verbergen, da ich sie wissend nicht ertrage; sie löst
die Verfestigungen auf, die das unkritische Denken hervorbringt und an die Stelle der
unendlichen Erforschbarkeit setzt; sie verwehrt alle täuschende Beruhigung.
Wissenschaft gibt mir das Maximum an Klarheit über die Situation des Menschen
und über meine Situation. Sie ist die Bedingung, ohne die ich der Aufgabe des Wissen-
könnens nicht genüge, die meinem Wesen mitgegeben ist, und die das große Schick-
sal des Menschen ist, das ihn auf die Probe stellt, was dadurch aus ihm wird.221
Wissenschaft entspringt der Redlichkeit und erzeugt sie. Es ist keine Wahrhaftig-
keit möglich, die nicht die wissenscha ftliche Haltung und Denkungsart in sich aufgenom-
men hätte. Für die wissenschaftliche Haltung ist charakteristisch das ständige Unter-
scheiden des zwingend Gewußten vom nicht zwingend Gewußten (ich will wissen,
was ich weiß, und was ich nicht weiß), - damit zugleich das Wissen mit dem Wissen
des Weges, der zu ihm führte, - und das Wissen der Grenzen des Sinns, in denen ein
Wissen gilt. Wissenschaftliche Haltung ist weiter die Bereitschaft zur Hinnahme jeder
Kritik an meinen Behauptungen. Für den denkenden Menschen - zumal für den For-
scher und Philosophen - ist Kritik Lebensbedingung. Er kann nicht genug in Frage ge-
stellt werden, um daran seine Einsicht zu prüfen. Noch die Erfahrung unberechtigter
Kritik kann auf einen echten Forscher produktiv wirken. Wer sich der Kritik entzieht,
will nicht eigentlich wissen.
Ist die Unbedingtheit wissenschaftlichen Wissenwollens eine unumgängliche Be-
dingung des Willens zur Wahrheit,29 so kann, wenn dies einmal im Menschsein wirk-
lich geworden ist, daran kein Zeitalter etwas ändern. Wem Wissenschaft wirklich
aufgeht - wer also nicht in der endlosen Vielfachheit der harmlos bleibenden Wißbar-
keiten (weil sie nur als Ergebnisse hin |genommen, nicht in ihrem möglichen Sinn er- 29
lebt sind) und nicht in dem zweckhaft für Examen und Praxis ausgewählten, in qual-
voller Anstrengung zu lernenden Stoff hängen bleibt -, dem wird die außerordentliche
Mühe und Arbeit beflügelt von einem Enthusiasmus und dem wird Wissenschaft Ele-
ment seines Lebens. Wie jederzeit ist auch heute der Zauber der Wissenschaft zu er-
fahren, wenn dem jungen Menschen die Welt weit und hell wird. Und heute ist wie je-
derzeit (vielleicht noch gesteigert) die Schwere der Wissenschaft zu erfahren, nämlich
die Gefahr des Wissens für die vorher bestehende naive Kraft des Unbewußten und für
die Lebenslügen. Es ist Tapferkeit nötig, wenn einer nicht gleichgültig lernt, sondern
fragend begreift. Daher gilt noch immer: sapere aude!35
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| 7. Wissenschaft als Bedingung aller Wahrhaftigkeit 28
Wissenschaft enthüllt die Täuschungen, mit denen ich mir das Leben leichter machen,
mit denen ich den Glauben ersetzen oder gar den Glauben selbst in die Garantie eines
Gewußtseins verwandeln möchte. Sie vertreibt die Verschleierungen, mit denen ich
geneigt bin, mir Wirklichkeiten zu verbergen, da ich sie wissend nicht ertrage; sie löst
die Verfestigungen auf, die das unkritische Denken hervorbringt und an die Stelle der
unendlichen Erforschbarkeit setzt; sie verwehrt alle täuschende Beruhigung.
Wissenschaft gibt mir das Maximum an Klarheit über die Situation des Menschen
und über meine Situation. Sie ist die Bedingung, ohne die ich der Aufgabe des Wissen-
könnens nicht genüge, die meinem Wesen mitgegeben ist, und die das große Schick-
sal des Menschen ist, das ihn auf die Probe stellt, was dadurch aus ihm wird.221
Wissenschaft entspringt der Redlichkeit und erzeugt sie. Es ist keine Wahrhaftig-
keit möglich, die nicht die wissenscha ftliche Haltung und Denkungsart in sich aufgenom-
men hätte. Für die wissenschaftliche Haltung ist charakteristisch das ständige Unter-
scheiden des zwingend Gewußten vom nicht zwingend Gewußten (ich will wissen,
was ich weiß, und was ich nicht weiß), - damit zugleich das Wissen mit dem Wissen
des Weges, der zu ihm führte, - und das Wissen der Grenzen des Sinns, in denen ein
Wissen gilt. Wissenschaftliche Haltung ist weiter die Bereitschaft zur Hinnahme jeder
Kritik an meinen Behauptungen. Für den denkenden Menschen - zumal für den For-
scher und Philosophen - ist Kritik Lebensbedingung. Er kann nicht genug in Frage ge-
stellt werden, um daran seine Einsicht zu prüfen. Noch die Erfahrung unberechtigter
Kritik kann auf einen echten Forscher produktiv wirken. Wer sich der Kritik entzieht,
will nicht eigentlich wissen.
Ist die Unbedingtheit wissenschaftlichen Wissenwollens eine unumgängliche Be-
dingung des Willens zur Wahrheit,29 so kann, wenn dies einmal im Menschsein wirk-
lich geworden ist, daran kein Zeitalter etwas ändern. Wem Wissenschaft wirklich
aufgeht - wer also nicht in der endlosen Vielfachheit der harmlos bleibenden Wißbar-
keiten (weil sie nur als Ergebnisse hin |genommen, nicht in ihrem möglichen Sinn er- 29
lebt sind) und nicht in dem zweckhaft für Examen und Praxis ausgewählten, in qual-
voller Anstrengung zu lernenden Stoff hängen bleibt -, dem wird die außerordentliche
Mühe und Arbeit beflügelt von einem Enthusiasmus und dem wird Wissenschaft Ele-
ment seines Lebens. Wie jederzeit ist auch heute der Zauber der Wissenschaft zu er-
fahren, wenn dem jungen Menschen die Welt weit und hell wird. Und heute ist wie je-
derzeit (vielleicht noch gesteigert) die Schwere der Wissenschaft zu erfahren, nämlich
die Gefahr des Wissens für die vorher bestehende naive Kraft des Unbewußten und für
die Lebenslügen. Es ist Tapferkeit nötig, wenn einer nicht gleichgültig lernt, sondern
fragend begreift. Daher gilt noch immer: sapere aude!35