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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 21): Schriften zur Universitätsidee — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51221#0215
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Die Idee der Universität [1946]

Wenn die Substanz fraglich geworden, der Glaube unbestimmt ist, so fragt man be-
wußt nach den Erziehungszielen. Das Suchen nach dem Erziehungsziel aber ist hoff-
50 nungslos, | wenn es etwas anderes ist als das Sichbewußtmachen der gegenwärtigen
Substanz, des eigenen Willens, wenn man es von außen zu finden sucht, statt aus ei-
genem Dasein es sich offenbar zu machen. Daher die geringe Bedeutung der Schlag-
worte von Erziehungszielen, die man hören kann: Ausbildung der besonderen Eig-
nung, Ertüchtigung, Weltorientierung, Charakterbildung, Nationalbewußtsein, Kraft
und Selbständigkeit, Ausdrucksfähigkeit, Bildung der Persönlichkeit, Schaffung eines
alle verbindenden gemeinsamen Kulturbewußtseins usw.
Die Erziehung an der Universität ist ihrem Wesen nach sokratische Erziehung. Sie
ist nicht die ganze Erziehung und ist nicht Erziehung wie auf den Schulen. Studenten
sind Erwachsene, nicht Kinder. Sie haben die Reife der vollen Selbstverantwortung.
Die Lehrer geben keine Anweisungen und keine persönliche Führung. Das hohe Gut,
das mit der Selbsterziehung des Einzelnen in der Luft der Universität erworben wer-
den kann, die Freiheit, ist verloren, wenn eine Erziehung stattfindet, wie sie großartig
etwa in geistlichen Orden, ferner auch in Kadettenanstalten,238 in der Janitscharen-
zucht239 entfaltet worden ist. Es schließt sich aus, solcher allgemeinen Zucht oder ei-
nem Meister sich zu unterwerfen und zugleich zu den Erfahrungen ursprünglichen
Wissenwollens und damit menschlicher Selbständigkeit zu kommen, die sich nur vor
Gott geschenkt und gebunden weiß.
Erziehung an der Universität ist der Prozeß der Bildung zu gehaltvoller Freiheit, und
zwar durch Teilnahme an dem geistigen Leben, das hier stattfindet.
Diese Bildung ist keine abtrennbare Aufgabe. Daher ist neben dem Prinzip der Ein-
heit von Forschung und Lehre ein zweites Prinzip der Universität die Verbindung von
Forschung und Lehre mit dem Bildungsprozeß. Forschung und Fachschulung haben
bildende Wirkung, weil sie nicht nur Kenntnisse und Können vermitteln, sondern
Ideen des Ganzen erwecken und eine Haltung der Wissenschaftlichkeit entwickeln.
Die Ausbildung geistig bewegten Erkennens ist aber noch nicht die volle Bildung zum
geprägten Menschen. Diese enthält mehr. Doch ein wesentlicher Einschlag ist die Bil-
dung durch die Universität.
Nicht jede beliebige und nicht eine endgültige Bildung erwächst der Universitäts-
idee. Aber innerhalb des Gesamtbildes eines Menschen spielt die rationale und philo-
51 sophische Prägung | eine so entscheidende Rolle, daß mit dem Ergriffensein von dem
grenzenlosen Willen zum Forschen und Klären, eine eigentümliche Bildung verknüpft
ist: sie fördert die Humanitas,75 d.h. das Hören auf Gründe, das Verstehen, das Mitden-
ken auf dem Standpunkt eines jeden anderen, die Redlichkeit, die Disziplinierung und
Kontinuität des Lebens. Aber diese Bildung ist natürlicher Erfolg, nicht bewußtes Ziel,
und durch die Aufstellung der Bildung zu einem besonderen, in Loslösung von den
Wissenschaften erreichbaren Ziel, wird gerade solche Bildung verloren. Mag man an
eine dünne »humanistische« Bildung denken, die statt philologisch-methodischer
 
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