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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 21): Schriften zur Universitätsidee — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51221#0319
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Das Doppelgesicht der Universitätsreform

Nennen wir kurz die Motive, die in dieser Wandlung zur Geltung kommen:
i. Die modernen Wissenschaften sind aus ganz verschiedenen Interessen entstanden (im
experimentierenden Denken der späteren Scholastik, in den Werkstätten der Archi-
tekten und Künstler, im Bergbau, in der humanistischen Philologie, in der Kamerali-
stik336 - dann in der freien Forschung einzelner, die sich über Europa hin in Beziehung
setzen, Gesellschaften und Akademien gründeten - schließlich aufgenommen an den
Universitäten). Trotz ihrer verschiedenen Ziele, lange Zeit ohne Bewußtsein ihrer Zu-
sammengehörigkeit, zeigte sich ein Gemeinsames. Die modernen Wissenschaften woll-
ten nicht nur, wie alles Denken von jeher, Wahrheit erkennen, sondern jene bestimmte
Wahrheit, die zwingend und allgemeingültig mit der Bewußtheit ihrer Methoden bewiesen
wird. Zum erstenmal in der Geschichte zeigte sich durch den Erfolg, daß solche Wahr-
heit möglich ist: Wo sie gewonnen wurde, wurde sie auch von jedermann, der sie ver-
stand, als richtig anerkannt. Das gab es vorher nur in Mathematik und Logik und in
der von den Wissenschaften getrennten Praxis. Jetzt bezog sie sich auf die gesamten Er-
fahrungsmöglichkeiten. Dieser moderne Forschungsgeist entstand auf vielen Erkennt-
nisgebieten unabhängig voneinander. Es war aber überall der gleiche Geist durch den
Anspruch auf diese kontrollierte Weise der zwingenden Richtigkeit. Die Naturwissen-
schaften haben nach traditioneller Auffassung und durch das Sensationelle ihrer Er-
gebnisse und deren Anwendbarkeit den Vorrang; nicht aber haben sie den Vorrang im
82 Sinn | der modernen wissenschaftlichen Erkenntnisart überhaupt. Die moderne Wis-
senschaft findet durch die Mannigfaltigkeit der je besonderen Methoden verschiedene
Gestalten. Das hebt aber die Einheit dieses Forschungsgeistes und seiner Gesinnung
nicht auf. Die Verwandtschaft dieses Geistes der Wissenschaftlichkeit hat sich im Be-
wußtsein der Mitwirkenden zwar gezeigt, aber nicht allgemein durchgesetzt. Sie ist der
einzige heute bestehende Grund für die gegenwärtig noch konventionell gültige For-
mulierung von der Einheit der Wissenschaften. Denn diese Einheit besteht heute nicht
mehr als materielle Einheit eines Systems des Wissens, wie es frühere Zeiten in philo-
sophischen Systemen entworfen haben, die alles Wissen in sich schlossen. Die Einheit
ist nicht mehr als ein um seine Mitte geordnetes Ganzes.
Wissenschaftliche Wahrheitserkenntnis im anderen Sinn ließ sich nur erreichen
unter gewaltiger Einbuße des früheren absoluten Wahrheitsgedankens. Denn das
zwingende Erkennen, das von allen Menschen in Methode und Ergebnissen anerkannt
wird, das allein sich so über die Welt verbreitet, daß darin Einmütigkeit aller entsteht,
ist partikular, relativ auf Methoden und Gesichtspunkte, und unfähig, dem Leben das
Ziel zu setzen, den Sinn zu geben.
Wenn daher diese Wissenschaft aufgefaßt wird als Wahrheitserkenntnis im uralten
Sinne der Philosophie, dann gewinnt sie die für unser Zeitalter verhängnisvolle Zwei-
deutigkeit: Wo sie zur Geltung kommt, wirkt sie erleuchtend; die durch sie mögliche
Wissensweise beschwingt; die von aller Subjektivität unabhängige, die Funktion als
Subjekt selber noch objektiv einbeziehende Erkenntnis ist einzig gewiß. Weil aber die
 
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