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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 21): Schriften zur Universitätsidee — Basel: Schwabe Verlag, 2016

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51221#0318
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Das Doppelgesicht der Universitätsreform

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2. Historischer Aspekt
Die mittelalterliche Universität war ein alle lebendigen Gegensätze und leidenschaftli-
chen Kämpfe umgreifendes geistig geschlossenes Ganzes. In den Ordnungen vom Stu-
denten bis zum selbständigen Lehrer, von der Artistenfakultät bis zur Theologie war
sie Ausdruck der hierarchischen Ordnung der Dinge. Eine gemeinsame geistige Struk-
tur ging durch alle Glieder. Sie hatte europäische Geltung. Aus allen Nationen kamen
Schüler und Lehrer. Christus verteilt die Aufgaben an die Fakultäten.
Diese Universität wandelte seit vier Jahrhunderten ihre Gestalt: äußerlich durch
die Aufgabenstellung seitens der sie nun tragenden Territorialstaaten; innerlich durch
den neuen Humanismus,335 die neuen Naturwissenscha ften, die neue Philosophie. Die gei-
stige Umstrukturierung vollzog sich langsam innerhalb der alten Formen. Diese wur-
den bewahrt, scheinen am Maße der neuen Realität fiktiv zu sein, bedeuten aber bis
heute eine Wahrheit symbolischen Charakters.
Man nennt die Wandlung die Säkularisierung der Universität: An die Stelle der Ge-
meinschaft des alle einigenden und bindenden kirchlichen Glaubens sei die lockere
Bindung durch den gemeinschaftlichen Dienst für die Wissenschaften getreten. Das
ist nicht durchaus richtig. Säkularisierung kann man den Übergang von Theologie in
einen bestimmten Typus innerhalb der modernen Philosophie nennen (etwa in He-
gel: säkularisiertes theologisches Denken; in Marx: säkularisiertes antitheologisches,
an Theologie als Gegner gebundenes Denken, das selber wieder einen neuen theolo-
gisch-atheistischen Charakter hat). Die Theologie selber bleibt nun als besonderes,
nicht mehr herrschendes Gebiet von geringer Bedeutung im Gesamtbereich der mo-
dernen Universität. Aber die Säkularisierung betrifft keineswegs den Wahrheitsgedanken
selber, der vielmehr in seiner Unbedingtheit jederzeit transzendent gegründet ist, ob
ohne oder mit Offenbarung, ob ohne oder mit einer Kirche.
| Mit der tatsächlichen Schwächung der einst alldurchdringenden einen Glaubens-
struktur zeigt sich seit zwei Jahrhunderten zunächst der Aspekt der Auflösung, heute
gesteigert. Keine Wissenschaft, keine Theologie, keine Philosophie, weder die Philo-
sophie als säkularisierte Theologie noch die Philosophie, die sich allein in ihrem eige-
nen, seit dreitausend Jahren in Erscheinung getretenen Ursprung gründet, gewinnt
die Alleinherrschaft. Der Pluralismus der nun wirksamen Mächte wird Übergriffen allein
von der neuen Gestalt der Idee der Universität: An der Universität sollen alle Wege zur Wahr-
heit sich treffen, ohne daß eine Instanz über allen besteht. An die Stelle der Einheit eines
auf dem gemeinsamen Boden sich in sich spaltenden und kämpfenden Glaubenssy-
stems, seiner Kategorien und Ordnungen, ist die neue grundsätzlich andere Instanz
getreten: die eine einzige, die sich im geistigen Ringen, in der Kommunikation der Er-
kennenden selber erst hervortreibt, ohne als bestehend vorausgesetzt zu sein und ohne
an einem Orte systematischer Totalität des Denkens in der Hierarchie der Wissenschaft
lokalisiert zu sein.

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