Die Idee der Universität. Für die gegenwärtige Situation entworfen [1961]
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versuchte Voraussetzungen der Erkenntnis, sondern absolute, das heißt dogmatische
Voraussetzungen sind. Man verwirft die Voraussetzung, daß Wissenschaft sein soll und
dann ihrem Sinn gemäß nur unbeschränkt sein kann. Man will statt Wissenschaft et-
was ganz anderes: Politik, Kirche, Propaganda für dunkle Leidenschaften'.387
Unter den Voraussetzungen aber des Sinns von Wissenschaft, der aus dem bloß
Richtigen das Wesentliche findet, ist die wichtigste, die so oft vergessen wird: daß Wis-
senschaft der Führung bedarf.
| 6. Wissenschaft bedarf der Führung
54
Wenn Wissenschaft sich selbst überlassen wird, gerät sie in eine Verwahrlosung. Eine
Weile kann sie wohl scheinbar aus sich vorangehen, wenn sie einmal - aus tieferem
Ursprung - in Gang gebracht worden ist. Alsbald aber zeigen sich die Sinnwidrigkei-
ten, die allmählich zum Einsturz ihres Gebäudes zu führen drohen. Wissenschaft ist
nicht im ganzen wahr und lebendig ohne den Glauben, der sie trägt.
Anders läßt sich dasselbe ausdrücken: Da Wissenschaft sich nicht selbst überlassen
werden kann, braucht sie Führung. Für die Verwirklichung der Wissenschaft ist ent-
scheidend, woher diese Führung kommt und welchen Sinn sie der Wissenschaft gibt.
Weder Nutzen für andere Zwecke noch Selbstzweck kann - wie wir sahen - der we-
sentliche Antrieb zur Wissenschaft sein. Wohl kann die Führung von außen Wissen-
schaft zu einem Mittel für anderes verwenden. Aber dann bleibt der Sinn der Wissen-
schaft im ganzen doch verschleiert. Wird dagegen der Endzweck in das richtige
wissenschaftliche Wissen als solches gelegt, so gerät Wissenschaft in die Sinnlosigkeit.
Die Führung muß von innen kommen, aus dem Grund der Wissenschaft selber, aber
aus einem alle Wissenschaft umgreifenden Ursprung.
Dieser Ursprung liegt im unbedingten Wissenwollen. Die Führung durch unbeding-
tes Wissenwollen im ganzen kann aber nicht zureichend geschehen mit einem vorher
gewußten Zweck und angebbarem, unmittelbar zu erstrebendem Ziel, sondern nur
i Als Beispiel dafür sei auf das Postulat nach paritätischer Vertretung der Konfessionen bei der Be-
setzung von Lehrstühlen verwiesen, wie es 1901 an der damals deutschen Universität Straßburg
mit der konfessionellen Verdopplung des vakant gewordenen Lehrstuhles für mittlere und neu-
ere Geschichte aus weltanschaulichem und politischem Interesse geltend gemacht wurde. Als Ver-
treter des »protestantischen« Ordinariats berief die Regierung den von der Fakultät an dritter Stelle
vorgeschlagenen Friedrich Meinecke, als Vertreter des »katholischen« Ordinariats aber setzte sie
unter Umgehung der Fakultät den Bonner Extraordinarius Martin Spahn ein. Lujo Brentano, der
damalige Rektor der Universität München, unternahm es dann gemeinsam mit Theodor Momm-
sen, an die Solidarität der deutschen Universitätslehrer zu appellieren, um eine allgemeine Pro-
testaktion zu bewirken. Brentano ist es zu verdanken, daß der Willkür der Regierung auf einer brei-
ten Basis, wenn auch ohne praktischen Erfolg, Veto geboten wurde. (Vgl. dazu: K. Rossmann,
Wissenschaft, Ethik und Politik, Erörterung des Grundsatzes der Voraussetzungslosigkeit in der
Forschung, Heidelberg 1949.)
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versuchte Voraussetzungen der Erkenntnis, sondern absolute, das heißt dogmatische
Voraussetzungen sind. Man verwirft die Voraussetzung, daß Wissenschaft sein soll und
dann ihrem Sinn gemäß nur unbeschränkt sein kann. Man will statt Wissenschaft et-
was ganz anderes: Politik, Kirche, Propaganda für dunkle Leidenschaften'.387
Unter den Voraussetzungen aber des Sinns von Wissenschaft, der aus dem bloß
Richtigen das Wesentliche findet, ist die wichtigste, die so oft vergessen wird: daß Wis-
senschaft der Führung bedarf.
| 6. Wissenschaft bedarf der Führung
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Wenn Wissenschaft sich selbst überlassen wird, gerät sie in eine Verwahrlosung. Eine
Weile kann sie wohl scheinbar aus sich vorangehen, wenn sie einmal - aus tieferem
Ursprung - in Gang gebracht worden ist. Alsbald aber zeigen sich die Sinnwidrigkei-
ten, die allmählich zum Einsturz ihres Gebäudes zu führen drohen. Wissenschaft ist
nicht im ganzen wahr und lebendig ohne den Glauben, der sie trägt.
Anders läßt sich dasselbe ausdrücken: Da Wissenschaft sich nicht selbst überlassen
werden kann, braucht sie Führung. Für die Verwirklichung der Wissenschaft ist ent-
scheidend, woher diese Führung kommt und welchen Sinn sie der Wissenschaft gibt.
Weder Nutzen für andere Zwecke noch Selbstzweck kann - wie wir sahen - der we-
sentliche Antrieb zur Wissenschaft sein. Wohl kann die Führung von außen Wissen-
schaft zu einem Mittel für anderes verwenden. Aber dann bleibt der Sinn der Wissen-
schaft im ganzen doch verschleiert. Wird dagegen der Endzweck in das richtige
wissenschaftliche Wissen als solches gelegt, so gerät Wissenschaft in die Sinnlosigkeit.
Die Führung muß von innen kommen, aus dem Grund der Wissenschaft selber, aber
aus einem alle Wissenschaft umgreifenden Ursprung.
Dieser Ursprung liegt im unbedingten Wissenwollen. Die Führung durch unbeding-
tes Wissenwollen im ganzen kann aber nicht zureichend geschehen mit einem vorher
gewußten Zweck und angebbarem, unmittelbar zu erstrebendem Ziel, sondern nur
i Als Beispiel dafür sei auf das Postulat nach paritätischer Vertretung der Konfessionen bei der Be-
setzung von Lehrstühlen verwiesen, wie es 1901 an der damals deutschen Universität Straßburg
mit der konfessionellen Verdopplung des vakant gewordenen Lehrstuhles für mittlere und neu-
ere Geschichte aus weltanschaulichem und politischem Interesse geltend gemacht wurde. Als Ver-
treter des »protestantischen« Ordinariats berief die Regierung den von der Fakultät an dritter Stelle
vorgeschlagenen Friedrich Meinecke, als Vertreter des »katholischen« Ordinariats aber setzte sie
unter Umgehung der Fakultät den Bonner Extraordinarius Martin Spahn ein. Lujo Brentano, der
damalige Rektor der Universität München, unternahm es dann gemeinsam mit Theodor Momm-
sen, an die Solidarität der deutschen Universitätslehrer zu appellieren, um eine allgemeine Pro-
testaktion zu bewirken. Brentano ist es zu verdanken, daß der Willkür der Regierung auf einer brei-
ten Basis, wenn auch ohne praktischen Erfolg, Veto geboten wurde. (Vgl. dazu: K. Rossmann,
Wissenschaft, Ethik und Politik, Erörterung des Grundsatzes der Voraussetzungslosigkeit in der
Forschung, Heidelberg 1949.)