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Die Idee der Universität. Für die gegenwärtige Situation entworfen [1961]
solche, die ihrerseits, wenn sie die Macht hätten, intolerant wären und die Idee der
Universität vernichten würden. Sie vertraut darauf, daß sie das ertragen kann. Sie darf
nicht in ruhigem Besitz leben. Ihr Kommunikationswille möchte auch das gegen
Kommunikation sich Sträubende aufschließen. Der Idee wäre es ungemäß, irgendei-
nen Mann von geistigem Rang, der tatsächliche wissenschaftliche Leistungen zeigt
94 und fortdauernd wissenschaftlich arbeitet - | auch wenn diese Wissenschaft letzthin
im Dienste eines fremden Interesses steht -, abzulehnen. Ebenso ungemäß aber wäre
es, zu verlangen, für »jede Weltanschauung« Vertreter an der Universität - etwa in
philosophischen, historischen, soziologischen, staatswissenschaftlichen Fächern -
zu schaffen. Wenn auf dem Boden einer Weltanschauung tatsächlich keine Persön-
lichkeit von wissenschaftlich erheblichem Rang entstanden ist, so kann diese Welt-
anschauung sich im Reiche der Wissenschaft auch nicht zur Geltung bringen. Die
Neigung des einzelnen Menschen ist es gewiß, daß er am liebsten mit Gesinnungs-
genossen zusammenlebt. Sofern er zur Idee der Universität sich bekennt und bei der
Auswahl der Menschen mitzureden hat, wird er aber gerade auch dazu neigen, das
Entfernteste heranzuziehen, Möglichkeiten des Kampfes zu schaffen, die Spannweite
des geistigen Umfangs zu erweitern, vor allem wissenschaftliche Leistung und geisti-
gen Rang allein entscheiden zu lassen. Die Idee der Universität läßt es nicht nur zu,
sondern fordert, Persönlichkeiten in ihren Körper aufzunehmen, die ihr selbst wider-
sprechen. Sofern aber diese Persönlichkeiten ihre außerwissenschaftlichen Glau-
bensinhalte und Autoritäten innerhalb der Universität nicht nur zum Gegenstand
der Darstellung und Diskussion machen, nicht nur als Impuls für ihre eigene For-
schung wirken lassen, sondern ihrerseits die Universität damit zu beherrschen su-
chen, in der Auswahl von weiteren Persönlichkeiten zunächst auf ihre Gesinnungs-
genossen blicken, wissenschaftliche Freiheit durch Propaganda ersetzen, dann würde
die Idee der Universität sich in den anderen Gliedern der Institution aufs schärfste
widersetzen.
4. Universalität: der Kosmos der Wissenschaften
1. Die Wissenschaften sind zuerst aus der Praxis erwachsen, und zwar aus der Heil-
kunst, der Feldmeßkunst, den Werkstätten der Bauleute und Maler, der Schiffahrt, der
Wirtschaft, der Diplomatie, der Staatsverwaltung, dem Reden und Schreiben und vie-
lem anderen. Daß darin ein Gemeinsames liegt, das Denken und Wissen überhaupt,
ist eine philosophische Idee. Erst aus ihr entspringt die Aufgabe, dieses Gemeinsame
95 bewußt zu machen und die Gesamtheit der Wissensweisen mit ihren | Gegenständen
als das Ganze des Wissens oder als die Einheit der Wissenschaften zu gestalten.
Das ursprüngliche Wissenwollen selber, wenn es auch nur im Ergreifen eines Be-
sonderen und an dessen Leitfaden sich verwirklichen kann, ist doch eines und geht
auf das Ganze. Es sieht alle jene zerstreuten Ansätze von Wissen und Forschung, um
Die Idee der Universität. Für die gegenwärtige Situation entworfen [1961]
solche, die ihrerseits, wenn sie die Macht hätten, intolerant wären und die Idee der
Universität vernichten würden. Sie vertraut darauf, daß sie das ertragen kann. Sie darf
nicht in ruhigem Besitz leben. Ihr Kommunikationswille möchte auch das gegen
Kommunikation sich Sträubende aufschließen. Der Idee wäre es ungemäß, irgendei-
nen Mann von geistigem Rang, der tatsächliche wissenschaftliche Leistungen zeigt
94 und fortdauernd wissenschaftlich arbeitet - | auch wenn diese Wissenschaft letzthin
im Dienste eines fremden Interesses steht -, abzulehnen. Ebenso ungemäß aber wäre
es, zu verlangen, für »jede Weltanschauung« Vertreter an der Universität - etwa in
philosophischen, historischen, soziologischen, staatswissenschaftlichen Fächern -
zu schaffen. Wenn auf dem Boden einer Weltanschauung tatsächlich keine Persön-
lichkeit von wissenschaftlich erheblichem Rang entstanden ist, so kann diese Welt-
anschauung sich im Reiche der Wissenschaft auch nicht zur Geltung bringen. Die
Neigung des einzelnen Menschen ist es gewiß, daß er am liebsten mit Gesinnungs-
genossen zusammenlebt. Sofern er zur Idee der Universität sich bekennt und bei der
Auswahl der Menschen mitzureden hat, wird er aber gerade auch dazu neigen, das
Entfernteste heranzuziehen, Möglichkeiten des Kampfes zu schaffen, die Spannweite
des geistigen Umfangs zu erweitern, vor allem wissenschaftliche Leistung und geisti-
gen Rang allein entscheiden zu lassen. Die Idee der Universität läßt es nicht nur zu,
sondern fordert, Persönlichkeiten in ihren Körper aufzunehmen, die ihr selbst wider-
sprechen. Sofern aber diese Persönlichkeiten ihre außerwissenschaftlichen Glau-
bensinhalte und Autoritäten innerhalb der Universität nicht nur zum Gegenstand
der Darstellung und Diskussion machen, nicht nur als Impuls für ihre eigene For-
schung wirken lassen, sondern ihrerseits die Universität damit zu beherrschen su-
chen, in der Auswahl von weiteren Persönlichkeiten zunächst auf ihre Gesinnungs-
genossen blicken, wissenschaftliche Freiheit durch Propaganda ersetzen, dann würde
die Idee der Universität sich in den anderen Gliedern der Institution aufs schärfste
widersetzen.
4. Universalität: der Kosmos der Wissenschaften
1. Die Wissenschaften sind zuerst aus der Praxis erwachsen, und zwar aus der Heil-
kunst, der Feldmeßkunst, den Werkstätten der Bauleute und Maler, der Schiffahrt, der
Wirtschaft, der Diplomatie, der Staatsverwaltung, dem Reden und Schreiben und vie-
lem anderen. Daß darin ein Gemeinsames liegt, das Denken und Wissen überhaupt,
ist eine philosophische Idee. Erst aus ihr entspringt die Aufgabe, dieses Gemeinsame
95 bewußt zu machen und die Gesamtheit der Wissensweisen mit ihren | Gegenständen
als das Ganze des Wissens oder als die Einheit der Wissenschaften zu gestalten.
Das ursprüngliche Wissenwollen selber, wenn es auch nur im Ergreifen eines Be-
sonderen und an dessen Leitfaden sich verwirklichen kann, ist doch eines und geht
auf das Ganze. Es sieht alle jene zerstreuten Ansätze von Wissen und Forschung, um