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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Schwabe AG [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 21): Schriften zur Universitätsidee — Basel: Schwabe Verlag, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51221#0448
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Die Idee der Universität. Für die gegenwärtige Situation entworfen [1961]

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1. Lehrfreiheit.407 Daher die Forderung der unbedingten Lehrfreiheit. Der Staat si-
chert an dieser Stelle einer Korporation das Recht, ohne Beeinflussung durch politi-
schen Parteiwillen oder weltanschaulichen Zwang rein aus der Sache heraus den Ver-
such zu machen, die Wahrheit zu erforschen und zu lehren, alles Tatsächliche zu
erfassen, alle Möglichkeiten durchzudenken.
Lehrfreiheit ist ein Teil der Freiheit des Forschens und Denkens selber.408 Denn diese
sind angewiesen auf geistig kämpfende Kommunikation. Die öffentliche Mitteilung
ist eine Bedingung dieser Kommunikation, die über die Welt hin die Sachkundigen
und geistig Bereiten sucht. Durch den Staatswillen wird den durch die Generationen
hin sich hörenden Menschen Raum gegeben, in ihrer Arbeit auf lange Sicht Distanz
zu den Dingen zu gewinnen, um sie zu erkennen. In der Erforschung der Natur des
| Menschen, des Geistes und seiner Geschichte sollen die äußersten Denkbarkeiten 154
nicht nur in unverbindlichem spielerischem, zufälligem und bald wieder vergessenem
Zugriff von Einfällen, sondern in der Kontinuität geistiger Werke zur Erkenntnis kom-
men. Es soll auch in Zeiten geistiger Barbarisierung bewahrt werden, was in besserem
Augenblick wieder für breite Schichten sich entfalten kann.
Die Bewährung dieser Freiheit geschieht, wo Menschen mit ihrer geistigen Aufgabe
schicksalsmäßig eins werden. Ihnen wird im Zusammenhang mit dem Zeitalter die Er-
kenntnis möglich, wenn sie, gerade in der von ihnen zum Bewußtsein gebrachten Ab-
hängigkeit ihres geschichtlichen Orts doch die Befreiung von den nahen und ober-
flächlichen Abhängigkeiten der Zeit gewinnen.
Im Menschen ist ein Punkt des Besinnens, des eigentlichen Wahrheitssuchens, das
als das verwickelte Getriebe geistiger Arbeit vorläufig nicht Sache der gesamten Bevöl-
kerung, sondern nur eines dazu berufenen Kreises sein kann. Es ist die Bildungsschicht
in den Berufen, die auf Hochschulstudien gegründet sind. Diese allein kann den ver-
stehenden und kritischen Widerhall für die Leistungen der Erkenntnis bringen. Nicht
gefesselt zu einem unmittelbaren, den Massen greifbaren Dienst am Volke, sondern
vom ganzen Volke gewollt als ein Dienst auf lange Sicht und in Vertretung für alle an-
dern, hat dieses Wahrheitssuchen seine Lehrfreiheit.
Die Lehrfreiheit bedeutet: Die Forscher gehen die Wege ihrer Forschung und ihrer
Lehre nach eigenem Ermessen. Die Staatsverwaltung bezieht sich nicht auf den Inhalt
des wissenschaftlichen Tuns, dieser ist Sache des je Einzelnen. Der Staat schützt diese
Freiheit sowohl gegen sich selber wie gegen Eingriffe von anderer Seite. Lehrfreiheit
steht in Analogie zur Religionsfreiheit. Sie wird nicht nur gegen den Staat, sondern
durch den Staat nach allen Seiten gesichert.
2. Forderung an die Praxis der Lehrfreiheit. Solche Lehrfreiheit kann jedoch nur be-
stehen, wenn die Forscher, die sie in Anspruch nehmen, sich ihres Sinns bewußt blei-
ben. Lehrfreiheit heißt nicht etwa das Recht zu beliebiger Meinungsäußerung. Wahr-
heit ist eine viel zu schwere und große Aufgabe, als daß sie verwechselt werden dürfte
mit dem Inhalt unkritischer und | leidenschaftlicher Meinungen in den Daseinsinter- J55
 
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