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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Schwabe AG [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 21): Schriften zur Universitätsidee — Basel: Schwabe Verlag, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51221#0458
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Die Idee der Universität. Für die gegenwärtige Situation entworfen [1961]

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liehen Glaubensgrund des Okzidents - und allein auf diesem - erwachsen, sondern sie
ist selber eine diesem Glaubensgrund eigene Denk- und Erkenntnisweise. Das ist sie
unter dessen Praemissen: der absoluten Transzendenz der Wahrheit und der mensch-
lichen Freiheit. Daß die transzendente Wahrheit und die menschliche Freiheit einan-
der bedingen, bildet die Glaubensvoraussetzung der auf universale menschliche Kom-
munikation bedachten modernen Wissenschaft. Es ist die dem westlichen, nicht aber
zugleich auch dem östlichen, griechisch-orthodoxen Christentum spezifisch eigene
Glaubensvoraussetzung. Unter deren unbedingter Wahrheitsforderung und unbeding-
tem Freiheitsanspruch, im Medium des Glaubens selber, aber entgegen dessen in den
Denk- und Vorstellungsweisen der antiken Kosmologie befangen gebliebenen Theo-
logie, begann die Epoche der modernen wissenschaftlichen Weltauslegung.
An die Stelle des antiken, im Gleichnis der sinnlichen Weltoffenbarung vorgestell-
ten ganzheitlichen Kosmos mit seiner statisch-hierarchischen Ordnung vom nieder-
sten bis zum höchsten Sein trat nunmehr der Begriff der unendlichen Relativität der
Weltnatur. Und an die Stelle des deutenden, dem theoretischen Togos gehorchenden
Erkennens der antiken Wissenschaft und Philosophie trat jetzt die auf den freien
schöpferischen Logos sich gründende Erkenntnisweise, die selber machen muß, was
sie erkennen will: die wissenschaftliche Erkenntnisweise. Mit der modernen Wissen-
schaft und der zu ihr gehörigen Technik begann der dem westlichen Christentum ei-
gene, an keiner theologisch-orthodoxen Dogmatik Genüge habende unbedingte
Wahrheitsglaube sich seine Weltwirklichkeit zu schaffen, um zuletzt die Kräfte des Kos-
mos selber in die Sphäre des freien menschlichen Handelns und damit in die Sphäre
des Politischen miteinzubeziehen.
Aber diese Wissenschaft, die den Menschen in eine früher kaum geahnte und heute
noch kaum verstandene und gewußte | Verantwortlichkeit stellt, hat nicht ihren Sinn
an sich selbst. Während die antike Wissenschaft als Deutungswissenschaft und Philo-
sophie sich selbst genug war, ist die moderne Wissenschaft gerade nicht sich selbst ge-
nug. Sie ist eine freie Bezeugungsform des unbedingten Wahrheitsglaubens, aber nicht
dieser Glaube selbst. Setzt sie sich selber an die Stelle dieses Glaubens - und das tut sie,
wenn sie als selbstmächtig sich begreift -, dann verkehrt sie sich in den Wissenschafts-
aberglauben. Indem sie stets doch nur partikulare und relative Wissensinhalte zu Glau-
bensgehalten dogmatisiert, opfert sie darüber sowohl den Unbedingtheitsanspruch des
Wahrheitsglaubens wie zugleich die Freiheit ihres eigenen Tuns und damit jede mensch-
liche Freiheit. Nicht die moderne Wissenschaft, sondern die zur Ideologie und zum
Glaubensersatz verkehrte Wissenschaft ist die den Glauben schlechthin negierende
Macht. Es ist der dem Wesen der modernen Wissenschaft zugrundeliegende Glaube sel-
ber, der hier bestritten wird: der Grund ihrer eigenen Möglichkeit als freier Wahrheits-
suche, deren institutionelle Stätte eine ihrem Geist entsprechende Universität ist.
Eben deshalb gehört es zum Prinzip totalitärer, einem dogmatischen Wissen-
schaftsaberglauben gehorchender Herrschaftsformen, die Idee der Universität als

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