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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2015 — 2016

DOI chapter:
A. Das akademische Jahr 2015
DOI chapter:
II. Wissenschaftliche Vorträge
DOI article:
Maul, Stefan M.: Politikberatung im Alten Orient oder Von Sinn und Unsinn der Prognostik
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55653#0039
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Stefan Maul

Schafslebcr in Relation zu Zukünftigem setzte. Unter Anwendung eines in sich
ganz systematisch und logisch wirkenden Gefüges von Gesetzmäßigkeiten wur-
den bestimmte Erscheinungen an der Leberoberfläche als günstige oder ungün-
stige Zeichen gedeutet.*
Die Fachleute prüften nacheinander entgegen dem Uhrzeigersinn Vorhan-
densein und unbeschadeten Zustand von zwölf anatomisch konstitutiven Elemen-
ten auf der Oberfläche der Leber: neben der Gallenblase, vor allem furchenartige
Zeichnungen, aber auch Einschnitte und markant geformte Oberflächen, auffälli-
ge Vorsprünge und Reste der Bänder, an welchen die Leber befestigt war. Der un-
beschadete Zustand der einzelnen Leberteile wurde als günstig bewertet. Darüber
hinaus spielte nicht zuletzt die Position von auffälligen Merkmalen, die irgend-
wo auf den zwölf Leberregionen auftauchen können, zur Ermittlung des Evalu-
ationsergebnisses eine grundlegende Rolle. Zu solchen Merkmalen zählen stark
hervortretende Lymphknoten, Häutchen, Blasen und Auswüchse sowie Löcher
im Gewebe der Leber. Diese sind an die Leberoberfläche tretende, offene und bis-
weilen verkalkte Bohrgänge verursacht von den auch heute gar nicht so seltenen
auftretenden Leberegeln, von Bandwurmlarven (Finnen) und anderen Parasiten.
Manche dieser Merkmale, wie z. B. ein Loch auf der Leberoberfläche, galten als
übles Zeichen. Andere wurden jedoch, wie z. B. eine weiche, von Bandwurmlar-
ven hervorgerufene Gewebeblase, positiv konnotiert.
Während schon keine gesunde Schafsleber einer anderen gleicht, führen
pathologische Erscheinungen von Entzündungen über Parasitenbefall bis hin
zu Nekrosen zu erschütternd unterschiedlichen Befunden. Bei der Prüfung ei-
ner Leber ging man, um bestimmte Merkmale positiv oder negativ systematisch
wahrnehmen und werten zu können, mit geradezu mathematischer Präzision
vor. Uber die zwölf konstitutiven Bereiche der Leber, z. B. über die Gallenblase,
wurde jeweils ein virtuelles Netz von Feldern gelegt, von denen die mittig he-
genden einer grundsätzlich wohlwollenden Schicksalsmacht zugeordnet waren,
die rechts davon liegenden der Befürwortung des zu evaluierenden Vorhabens
und die sich links davon befindenden den dem Vorhaben zuwider wirkenden
Kräften.
Wurde nun ein positiv konnotiertes Merkmal im mittleren Feld beobachtet,
war dies ein positiver Befund. Denn die Schicksalsmacht zeigte sich wohlwollend.
Wenn das gleiche Zeichen im rechten Feld erschien, ergab sich ebenfalls ein positiv
gewertetes Zeichen. Auf dem linken Feld, das die dem Vorhaben zuwider wirken-
den Kräfte verkörpert, wirkt es als Verstärkung dieser Kräfte und wurde somit zu
einem als ungünstig eingestuften Zeichen auf der Leber. Ein negativ konnotiertes
Merkmal hingegen wirkt sich entsprechend bei dem mittleren und dem rechten

Siehe S. M. Maul, Die Wahrsagekunst im Alten Orient. Zeichen des Himmels und der Erde,
München 2013.

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