Metadaten

Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2015 — 2016

DOI Kapitel:
A. Das akademische Jahr 2015
DOI Kapitel:
II. Wissenschaftliche Vorträge
DOI Artikel:
Aurnhammer, Achim: Georg Büchners Schulrede Helden-Tod der vierhundert Pforzheimer (1829/30)
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55653#0069
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Achim Aurnhammer

Achim Aurnhammer
„Georg Büchners Schulrede He/den-Tod der vierhundert Pforzheimer
(1829/30)"
Sitzung der Philosophisch-historischen Klasse am 23. Oktober 2015
Anhand von Georg Büchners Schulrede über den Helden-Tod der vierhundert Pforz-
heimer sollte ein Werkstattbericht aus dem Freiburger Sonderforschungsbereich
948 („Helden - Heroisierungen - Heroismen“) exemplarisch zeigen, wie sehr die
kollektive Erinnerung an Heldentaten von medialer Inszenierung und der retro-
spektiven Heroisierung durch ein Publikum abhängen kann. Büchner verfasste
die Rede 1829 als sechzehnjähriger Schüler am großherzoglichen Gymnasium in
Darmstadt. Seinem Schulunterricht verdankte er die Kenntnis des Themas, einer
Episode aus dem Dreißigjährigen Krieg: In der Schlacht bei Wimpfen (1622) er-
litt das protestantische Heer unter Führung des lutherischen Markgrafen Georg
Friedrich von Baden-Durlach eine vernichtende Niederlage gegen Tillys Armee.
Diese Schlacht war ein großes Medienereignis. In den zeitgenössischen Chro-
niken, Flugschriften und Einblattdrucken ist zwar von heroischem Widerstand
und „HeldenMuth“ einiger Soldaten die Rede, die den Rückzug des Markgrafen
gedeckt haben sollen, nicht aber von Pforzheimer Bürgern. Seit wann die wohl
mündlich kolportierte Legende von den /vierhundert Pforzheimern4 kursierte, ist
unklar.
Erst kurz vor der Französischen Revolution wurde die historisch fragwür-
dige Heldentat deutschlandweit bekannt, und zwar durch Ernst Ludwig Deim-
lings Drama Die Vierhundert Pforzheimer Bürger oder die Schlacht bey Wimpfen (1788)
sowie durch eine Gedenkrede des badischen Historikers Ernst Ludwig Posselt,
Dem Vaterlandstod der Vierhundert Bürger von Pforzheim (1788). Noch Büchner ori-
entierte sich an Posselts mustergültiger Rede, die er in einem seiner Darmstädter
Gymnasial-Lehrbücher abgedruckt fand. Seiner Vorlage verdankt Büchner u. a.
den Vergleich der Pforzheimer mit zwei legendären heroischen Selbstaufopferun-
gen der Antike, nämlich der dreihundert Spartaner unter Leonidas bei den Ther-
mopylen 480 v. Chr. sowie der vierhundert Römer bei Kamarina auf Sizilien im
Ersten Punischen Krieg 258 v. Chr. Mit diesen Vergleichen begründet Posselt eine
Translatio heroica, den Transfer eines heroischen Nationalcharakters von Griechen-
land über Rom nach Deutschland. In Posselts Rede figurieren die Pforzheimer
als Muster aufgeklärter Bürger in einer konstitutionellen Monarchie und verkör-
pern in ihrer Fürsten- und Verfassungstreue das identitätsstiftende Muster einer
Nationaltugend. Mit der Zweihundertjahrfeier der Schlacht bei Wimpfen, welche
das badische Herrscherhaus veranstaltete, setzte 1822 ein regelrechter Kult ein,
in dem der Opfertod des bürgerlichen Heldenkollektivs rednerisch, poetisch und
bildkünstlerisch verklärt wurde.

69
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften