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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2015 — 2016

DOI Kapitel:
A. Das akademische Jahr 2015
DOI Kapitel:
II. Wissenschaftliche Vorträge
DOI Artikel:
Michaels, Axel: Kulturelles Erbe in Katastrophen: Nepal und seine Erdbeben
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55653#0079
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Axel Michaels

möglich, das Material nach verschiedenen inhaltlichen Kriterien zu durchsuchen.
Besonders aufschlussreich ist das Material für Studien zur Entwicklung von Eli-
tenkulturen und die Legitimation und Inszenierung von Herrschaft sowie den
Stellenwert der Verschriftlichung und Kodifizierung von Recht im Zusammen-
hang ethnologisch erfasster Jurisprudenz. Die wissenschaftlichen Mitarbeiter der
Forschungsstelle arbeiten zu solchen und anderen Themen.
Warum gibt es trotz der häufigen Beben und trotz der ständigen Gefahr so we-
nig indigene Reflexionen über Erdbeben in der Geschichte Südasiens? Ein Grund
liegt vielleicht darin, dass die Brahmanen, die Hauptverfasser der Sanskrittexte,
oft nicht so sehr an dieser Welt, sondern an außerweltlicher Erlösung interessiert
waren. Ein anderer Grund liegt wohl im zyklischen Weltbild im Hinduismus, das
mit einer Dekadenz von vier Weltzeitaltern einhergeht. Wenn man eine solche re-
ligiös-philosophische Haltung überhaupt zur Grundlage von gegenwärtigen Welt-
anschauungen machen darf, dann hat sie möglicherweise Auswirkungen auf die
Einschätzung von Naturkatastrophen und den Umgang mit dem dabei zerstörten
kulturellen Erbe. Der Unterschied sieht etwa so aus:
In einem christlich geprägten Umfeld gelten die Folgen von Naturkatas-
trophen seit der Aufklärung als im Prinzip beherrschbar. Zwar ist bei Erdbeben,
Tsunami und anderen Katastrophen die Vermeidung noch nicht präzise genug
vorhersehbar, aber im Prinzip bedarf es nur genauerer Messungen und weiterer
Forschung. Kaum aber wird daran gezweifelt, dass es dem Grundsatz nach
möglich ist oder sein wird, die Schäden von Erdbeben durch sichere Bauten
und Vorhersagen weitgehend einzuschränken, wie dies bei Hurrikans oft schon
geschieht. Indirekt gelten selbst Naturkatastrophen als Chance, die Welt zu
verbessern. Das gilt auch für vom Menschen verursachte oder mitverursachte
Katastrophen. Reinhart Kosselleck hat mit seinen Ausführungen zu Kritik und
Krise gezeigt, wie sehr beide Begriffe Zusammenhängen: Die Gegenwart wird in
der Kritik als Vorbereitung auf die bessere Zukunft verstanden. Die durch den
religiösen Fanatiker ausgelöste Katastrophe - Stichwort Jerusalem, Stichwort
Palmyra - ist solchem apokalyptischen Denken nicht fern: Auch hier muss die
Welt untergehen, damit eine neue, bessere, gottgerechtere Welt entsteht: das Neue
Jerusalem, das Kalifat. Katastrophen, aber auch Wiederaufbauten werden also als
Botschaften für ein in der Zukunft liegendes Ziel verstanden oder konstruiert:
sei es der Wiederaufbau des Berliner Schlosses, das 1950 von kommunistischen
Fanatikern im Stil des Islamischen Staates zerstört wurde, sei es der Wiederaufbau
von Altstädten. Die Kritik ist daher in gewissem Sinne eine säkularisierte
Apokalyptik.
In einem hinduistisch-buddhistischen Umfeld ist Natur weder beherrschbar
noch ist die Katastrophe vermeidbar. Sie ist Teil der immer wiederkehrenden
Zerstörung und Erneuerung - und damit der menschlichen Handlungsmacht
bis zu einem gewissen Grad entzogen. Die in Nepal oft zu hörende rhetorische

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