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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2015 — 2016

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C. Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses
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II. Das WIN-Kolleg
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Sechster Forschungsschwerpunkt „Messen und Verstehen der Welt durch die Wissenschaft“
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11. Die Vermessung der Welt. Religiöse Deutung und empirische Quantifizierung im mittelalterlichen Europa
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https://doi.org/10.11588/diglit.55653#0292
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11. Die Vermessung der Welt (WIN-Programm)

in frühmittelalterlichen exegetischen Schriften eine Rolle spielte, beschränkte sich
die Rolle numerischer Angaben, z. B. in frühen Pilgerberichten nach Jerusalem,
tendenziell auf die Angabe von Tagesreisen zur Messung von Entfernungen zwi-
schen Städten. Aber auch in solchen Berichten tauchen biblisch fundierte Zah-
lenangaben auf, etwa wenn ein Jerusalempilger aus Piacenza um das Jahr 570 von
dem „Ort mit den 72 Palmen und 12 Quellen“5 sprach und so auf den in Ex 15,27
mit (fast genau) diesen Worten beschriebenen Ort Elim verwies (die Bibel aber
zählt nur 70 Palmen). Dies sollte sich zum späten Mittelalter hin ändern: Sowohl
Jerusalempilger als auch Fernreisende (seien es Missionare oder Händler) nahmen
deutlich stärker Rekurs zu quantitativen Angaben, um ihre Umgebung zu erfassen.
Odorich von Portenau etwa, ein Franziskanermönch, der im 14. Jahrhundert nach
China reiste, zählte in einer Tempelstadt 3.000 Mönche mit 11.000 Götzenbildern,
von denen ein kleineres „etwa so groß wie eine Figur des Hl. Christopherus“6 ge-
wesen sei. Dieser knappe Auszug aus seinem Bericht zeigt, dass es neben der ab-
strakten Quantifizierung durchaus alternative Methoden gab, die (fremde) Welt
zu vermessen: So z. B. der Vergleich mit Dingen, die aus der eigenen Lebenswelt
bekannt waren.7 Während Vergleiche bei der Beschreibung fremder Städte oder
Gebäude häufig genutzt wurden, scheint der Quantifizierung insbesondere bei
der Erfahrung Jerusalems eine besondere Rolle zugekommen zu sein. Christliche
Pilger zählten mitunter jeden Schritt und jeden Stein der ihnen heiligen Stadt: die
Via dolorosa messe etwa 1.100 Schritte, zum Kalvarienberg führten achtzehn Stu-
fen hinauf, zur Kreuzfindungszisterne vierzig Stufen hinab, das Loch, in dem das
Kreuz Christi gestanden habe, sei drei Spannen tief und eine weit, das Grab Jesu
eineinhalb Klafter lang und ebenso viele Ellen breit usw. .. .8 9
Gegenüber einer ausführlichen Beschreibung von Beschaffenheit, Aussehen
und Textur eines Objekts, oder aber dem Gefühl, das dem Beschreibenden beim
Anblick überkam, wurde der Bezifferung von Menge und Größe häufig der Vor-
zug gegeben. Angesichts der Beschreibung durch Zahlen hat die Forschung wie-
derholt darauf hingewiesen, dass entsprechende Angaben mitunter symbolisch zu
verstehen sind: So erinnert Odorichs Beschreibung der chinesischen Hauptstadt
Hangzhou mit ihren zwölf in gleichem Abstand befindlichen Toren an das himm-
lische Jerusalem4 und damit an eine in christlicher Vorstellung ideale Stadt.6

5 In Übersetzung in Herbert Donner, Pilgerfahrt ins Heilige Land. Die ältesten Berichte christli-
cher Palästinapilger (4. - 7. Jahrhundert), Stuttgart 1979, S. 304 f.
6 Die Reise des seligen Odorich von Pordenone nach Indien und China (1314/18-1330), hg.
von Folker Reichert, Heidelberg 1987, S. 82-84.
7 Vgl. dazu Arnold Esch, Anschauung und Begriff Die Bewältigung fremder Wirklichkeit durch
den Vergleich in Reiseberichten des späten Mittelalters, in: Historische Zeitschrift 253, 1991,
S. 281-312.
8 Vgl. Folker Reichert, Erfahrung der Welt. Reisen und Kulturbegegnung im späten Mittelalter,
Stuttgart/Berlin/Köln 2001, S. 146 f.
9 Die Reise des seligen Odorich von Pordenone (wie Anm. 7), S. 86-88.

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