Nachruf auf Wolfgang Wieland
In Anerkennung dieser außergewöhnlichen Verdienste um die medizinthcoreti-
sche Grundlagenforschung hat die Medizinische Fakultät der Universität Tübin-
gen Wolfgang Wieland 2005 die Ehrendoktorwürde verliehen.
Die Philosophie angehend, erschien 1982 sein zweites großes Hauptwerk Pla-
ton und die Formen des Wissens (2., erweiterte Auflage Göttingen 1999). Ein ganz
anderer Platon tritt uns da entgegen, als ich ihn in Tübingen im Austausch mit den
Vertretern der Tübinger Platonschule (H.J. Krämer, TA. Szlezäk) kennen- und
schätzen gelernt hatte. Der Tübinger Platon schreibt exoterische, protreptische
Dialoge und spart sein Bestes für den mündlichen Unterricht in der Akademie
auf: die ungeschriebene Prinzipienlehre, die wir aus knappen Referaten der Schü-
ler, insbesondere des Aristoteles, und Andeutungen in den Dialogen mühsam re-
konstruieren müssen. Wielands Platon ist von anderem Zuschnitt. Der Lehrer
Gadamer lässt sich im Hintergrund erkennen oder erahnen, im Vordergrund steht
die Ideenlehre der Dialoge, und als Wielands persönliches theoretisches Anliegen
tritt die Akzentuierung der Rolle der Phronesis, der Urteilskraft, des nichtpro-
positionalen Wissens-wie hervor, sowohl in sachlicher wie auch in exegetischer
Perspektive. Die Dialogform und die ideentheoretischen Inhalte vereinigen sich
nach Wielands präziser, kenntnisgesättigter Analyse in Platons Werk zu der klas-
sischen Darstellung des nichtpropositionalen Wissens und der Würdigung seiner
grundlegenden Bedeutung für das Wissen überhaupt, auch das propositionale. Wie
sehr Wieland von dieser philosophischen Grundproblematik, derjenigen des prak-
tischen Wissens und der Urteilskraft, bewegt wurde, führen uns seine weiteren
Monographien schon durch ihre Titel vor Augen: Strukturwandel der Medizin
und ärztliche Ethik. Philosophische Überlegungen zu Grundfragen einer prakti-
schen Wissenschaft, Heidelberg 1986; Aporien der praktischen Vernunft, Frank-
furt am Main 1989; Verantwortung - Prinzip der Ethik? Heidelberg 1999; Urteil
und Gefühl. Kants Theorie der Urteilskraft, Göttingen 2001; Bioethik als Heraus-
forderung, Bonn 2003. Drei dieser Bücher erschienen nach Wolfgang Wielands
Emeritierung; der Philosophie und der Wissenschaft also hat er die Treue gehalten,
auch wenn er dem Universitätsbetrieb der jüngsten Zeit wohl ebenso kritisch be-
gegnete wie nicht wenige andere bedeutende Wissenschaftler und Gelehrte unse-
rer Tage. Unter Berufung auf seinen Lehrer Gadamer schloss er seine akademische
Antrittsrede 1983 mit dessen Worten, es seien „die Sitzungen der Akademie die
einzigen eines Gelehrten würdigen Sitzungen im heutigen akademischen Lehr-
betrieb“. Darin liegt ein Auftrag, dem wir in geisteskarger Zeit, so gut wir noch
können, Rechnung zu tragen haben. Indem wir es tun, bewahren wir Wolfgang
Wieland, der am 8. März dieses Jahres gestorben ist, das ehrende Andenken, das
wir ihm schulden.
Anton Friedrich Koch
339
In Anerkennung dieser außergewöhnlichen Verdienste um die medizinthcoreti-
sche Grundlagenforschung hat die Medizinische Fakultät der Universität Tübin-
gen Wolfgang Wieland 2005 die Ehrendoktorwürde verliehen.
Die Philosophie angehend, erschien 1982 sein zweites großes Hauptwerk Pla-
ton und die Formen des Wissens (2., erweiterte Auflage Göttingen 1999). Ein ganz
anderer Platon tritt uns da entgegen, als ich ihn in Tübingen im Austausch mit den
Vertretern der Tübinger Platonschule (H.J. Krämer, TA. Szlezäk) kennen- und
schätzen gelernt hatte. Der Tübinger Platon schreibt exoterische, protreptische
Dialoge und spart sein Bestes für den mündlichen Unterricht in der Akademie
auf: die ungeschriebene Prinzipienlehre, die wir aus knappen Referaten der Schü-
ler, insbesondere des Aristoteles, und Andeutungen in den Dialogen mühsam re-
konstruieren müssen. Wielands Platon ist von anderem Zuschnitt. Der Lehrer
Gadamer lässt sich im Hintergrund erkennen oder erahnen, im Vordergrund steht
die Ideenlehre der Dialoge, und als Wielands persönliches theoretisches Anliegen
tritt die Akzentuierung der Rolle der Phronesis, der Urteilskraft, des nichtpro-
positionalen Wissens-wie hervor, sowohl in sachlicher wie auch in exegetischer
Perspektive. Die Dialogform und die ideentheoretischen Inhalte vereinigen sich
nach Wielands präziser, kenntnisgesättigter Analyse in Platons Werk zu der klas-
sischen Darstellung des nichtpropositionalen Wissens und der Würdigung seiner
grundlegenden Bedeutung für das Wissen überhaupt, auch das propositionale. Wie
sehr Wieland von dieser philosophischen Grundproblematik, derjenigen des prak-
tischen Wissens und der Urteilskraft, bewegt wurde, führen uns seine weiteren
Monographien schon durch ihre Titel vor Augen: Strukturwandel der Medizin
und ärztliche Ethik. Philosophische Überlegungen zu Grundfragen einer prakti-
schen Wissenschaft, Heidelberg 1986; Aporien der praktischen Vernunft, Frank-
furt am Main 1989; Verantwortung - Prinzip der Ethik? Heidelberg 1999; Urteil
und Gefühl. Kants Theorie der Urteilskraft, Göttingen 2001; Bioethik als Heraus-
forderung, Bonn 2003. Drei dieser Bücher erschienen nach Wolfgang Wielands
Emeritierung; der Philosophie und der Wissenschaft also hat er die Treue gehalten,
auch wenn er dem Universitätsbetrieb der jüngsten Zeit wohl ebenso kritisch be-
gegnete wie nicht wenige andere bedeutende Wissenschaftler und Gelehrte unse-
rer Tage. Unter Berufung auf seinen Lehrer Gadamer schloss er seine akademische
Antrittsrede 1983 mit dessen Worten, es seien „die Sitzungen der Akademie die
einzigen eines Gelehrten würdigen Sitzungen im heutigen akademischen Lehr-
betrieb“. Darin liegt ein Auftrag, dem wir in geisteskarger Zeit, so gut wir noch
können, Rechnung zu tragen haben. Indem wir es tun, bewahren wir Wolfgang
Wieland, der am 8. März dieses Jahres gestorben ist, das ehrende Andenken, das
wir ihm schulden.
Anton Friedrich Koch
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