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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Schwabe AG [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 21): Schriften zur Universitätsidee — Basel: Schwabe Verlag, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51221#0151
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76

Erneuerung der Universität

breitete Gutachtertätigkeit unterstützen oder in ihren unmenschlichen Wirkungen
einschränken mußten. Ärzte wurden gezwungen zu Operationen (Sterilisierungen),
die sie mit gutem Gewissen in der Mehrzahl der Fälle nicht vertreten konnten. Ein-
zelne Ärzte haben sich herbeigelassen, den Geisteskrankenmord zu vollziehen.
Wir haben etwas erlebt, was dem Hexenwahn des späten Mittelalters entspricht:
den Rassenwahn, samt allen Irrungen auf Grund einer sogenannten biologischen
Weltanschauung. Diese Vorstellungen hatten dieselben Merkmale wie damals: Unkor-
rigierbarkeit, Umdeutung aller Gegengründe in Bestätigungen, Ersatz der Begründung
durch Sophistik, Terror und Folter, eine angstvolle Ergriffenheit Wohlmeinender, als
ob doch etwas daran sein könnte, sadistische Befriedigung anderer, die unersättlich
nach noch weiteren, noch grausameren Verfahren drängten.
Hat das alles der Nationalsozialismus gebracht? Doch offenbar nur darum, weil
diese Möglichkeiten bereitlagen. Es sitzt irgendwo in unserer vorhergehenden Über-
lieferung, was hier so unheilvoll ausbrach. Darum müssen wir den Keim des Bösen be-
greifen, der lange vorher ahnungslos gelegt wurde. Das ist eine der großen Aufgaben
unserer in die Tiefe gehenden geschichtlichen Selbstbesinnung.
Hier nur ein Beispiel aus der Medizin: Ein kritisch anregender, seinerzeit hochan-
gesehener Psychiater schrieb mit einem Juristen eine Broschüre über die Vernichtung
lebensunwerten Lebens.132 Das entsprach der Denkungsart einer gottlosen positivisti-
schen Welt. Dort wurden die Gedanken niedergelegt, welche jetzt im Geisteskranken-
13 mord ihre damals gewiß nicht so ge|wollte praktische Konsequenz hatten. Aber das
Entscheidende ist, daß überhaupt unter gewissen Bedingungen Tötung von Geistes-
kranken aus rational feststellbaren Indikationen gefordert wurde, daß es sich dabei gar
nicht um Wissenschaft oder um ein Ergebnis der Wissenschaft handelte, daß die Mo-
tive der Humanität unklar geworden waren und daß solche Forderung zumal unter
Herbeiziehung der scheinbar einleuchtenden Beispiele auch Menschen, die im Sinne
unseres Zeitalters verständig waren, plausibel erschien. Die Sache ist in der Tat nicht
einfach. Weiß doch jeder Arzt, wie etwa bei rasenden Schmerzen Karzinomkranker zu-
letzt die Spritzen wohltätig so gesteigert werden, daß der Kranke nicht mehr erwacht
und der Übergang zur letalen Spritze fließend ist.
Daraus ist eines zu lernen: daß es Fragen gibt, die unlösbar sind. Wenn man sie in
die Sphäre der Berechenbarkeit und Grundsätzlichkeit zieht, so tastet man etwas an,
das man ehrfürchtig stehen lassen muß. Solcher Unlösbarkeiten gibt es zahlreiche,
zum Beispiel in den Fragen nach der freien Willensbestimmung, in den Fragen der Un-
fallgesetzgebung, ja, in den Fragen der alltäglichen Durchschnittstherapie. In den Un-
lösbarkeiten aber kann man klar sein. Diese Klarheit wird überall dort entstehen, wo
die zwei Pfeiler, auf denen die Medizin ruht, verläßlich sind.
Diese zwei Pfeiler sind die Wahrhaftigkeit und die Ehrfurcht vor dem Menschsein
- oder: Wissenschaft und Humanität. Wären jene beiden Pfeiler fest gewesen, so hätte
der Einbruch des Nationalsozialismus in die Medizin nicht stattfinden können.
 
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