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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 21): Schriften zur Universitätsidee — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51221#0167
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Vom lebendigen Geist der Universität

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Radikalität getrieben durch Nietzsche, der seine Professur aufgegeben hatte und von
den Universitäten verworfen wurde. Die bedeutendsten neuen Denkimpulse gehörten
gar nicht mehr der Universität an, wenn sie auch in deren geistiger Welt als Opposition
stehen. Marx und Kierkegaard fanden ungefähr gleichzeitig in den 40er Jahren ihre
entscheidenden Visionen, ohne anders beachtet zu werden denn als Wunderlichkeiten.
Es entstand seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die moderne Universität. Sie meinte
die alte Idee zu bewahren, doch geschah es jedenfalls ohne Kraft. Sie hat kein eigenes
neues Prinzip entwickelt. Sie zweifelt schließlich, den eigenen Ursprung vergessend,
an ihrer Einheit. Billroth meinte schon in den 70er Jahren, daß das Zusammensein von
medizinischer und theologischer Fakultät in einem gemeinsamen Körper sinnlos sei.134
Man gründete technische und andere Hochschulen außerhalb der Universität; die Idee
der Einheit war vergessen. Man ließ die alte philosophische Fakultät sich spalten in
naturwissenschaftliche und philosophische Fakultät.
199 | Der Zudrang der Studenten vervielfachte sich.168 Die Zahl der Professoren wuchs.
Aus einer Korporation von Persönlichkeiten wurde eine Massenuniversität. Die aka-
demischen Berufe nahmen auch in der Praxis den Charakter der Massenhaftigkeit an.
Die gemeinsame Vorbildung aller im humanistischen Gymnasium hörte auf, auch an-
dere Schulen berechtigten zum Studium. Die Anforderungen wurden herabgesetzt.
Die technisch bequemere Verfügbarkeit großer Wissensmassen und ihre außerordent-
liche Vermehrung verschleierten den geistigen Rückgang. Mit dem Humanismus ver-
lor man die gemeinsame Atmosphäre. Der Unterricht wurde didaktisch zweckmäßiger.
Die Masse mußte etwas lernen. Die Verschulung beschnitt den Raum des gefahrvollen
geistigen Lebensganges des für sich selbst verantwortlichen Einzelnen.
Mit der Senkung des Niveaus wuchs die Spezialisierung. Wer geistig ein Barbar war,
konnte als Fachmann mit Leistungen glänzen. Die Institute drängten sich vor. Trotz-
dem ist Haeckels169 unwilliger Satz nur halb wahr: Je größer die Institute, desto unbe-
deutender die daraus hervorgehenden Arbeiten.170 Die spezialistische Forschung, in
den Naturwissenschaften, in der Philologie und in den historischen Wissenschaften,
ging ihren sicheren Weg, aber sie hatte immer loseren Zusammenhang mit der Idee
der Wahrheit im Ganzen und wurde ratlos vor der Frage nach ihrem eigenen Sinn. Sie
mußte sich verspotten lassen als Wissenschaft vom Nichtwissenswerten.171 Der Tüch-
tigkeit im speziellen Können trat statt der philosophischen Idee etwas ganz Anderes
gegenüber: ein unerhört versiertes Intellektuellentum. Der Verstand ist keineswegs ge-
ringer, nur das Leben des Erkennens ist matt geworden. Die Philosophie war preisgege-
200 ben als Magd der Wissenschaften; sie war nicht | mehr das Ethos sich selbst gestalten-
der Menschen. Philosophie wurde vielmehr ersetzt zunächst durch Erkenntnistheorie,
dann durch Psychologie und Soziologie.
Zerbröckelung in Spezialistentum und Verflüssigung in Intellektuellentum brach-
ten die Kommunikation an der Universität bis an die Grenze des Verschwindens. An
die Stelle geistiger Gemeinschaft im liebenden Kampf37 trat einerseits die Vorsicht auf
 
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