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Die Idee der Universität [1946]
mathematische Konstruktionen, die Geisteswissenschaften verstehen von innen
durch Sinngesetze.
Gesetzes-Wissenschaften und historische Wissenschaften: Gesetzeswissenschaften su-
chen das Allgemeine, historische das je einmalige Individuum zu erkennen.
Grundwissenschaften und Hilfswissenschaften: Grundwissenschaften sind solche,
die in der Tat aus dem Ganzen des Wissens das Licht in sich sammeln, daher das Ganze
vertreten, insofern einen universalen Charakter haben. Hilfswissenschaften sind
solche, in denen entweder nur gesammelt, Stoff herbeigebracht wird, oder in denen
für praktische Einzelzwecke Zusammenstellungen des hier brauchbaren Wissens er-
folgen.
Alle diese Polaritäten, in denen wissenschaftliches Erkennen zu Gegensätzen aus-
einandertritt, sind in sich verbunden. Nur vorübergehend kann das Entgegengesetzte
unter Ablösung des anderen Pols sich trennen: es wird dann alsbald unfruchtbar. Das
Wesen der konkreten Wissenschaften ist, daß je der eine Pol mit dem andern zur Gel-
tung kommt. Keineswegs sind die Wissenschaften in je zwei Gruppen sauber und ra-
dikal zu trennen.
Die konkreten Wissenschaften sind charakterisiert durch ihren Gegenstand, des-
77 sen Grund sie mit allen Methoden näher | zu kommen suchen. Daher gelingt es nicht,
eine Einteilung der Wissenschaften zu gewinnen, so wenig man die Wellenkreise ei-
ner Wasseroberfläche, die aus zahlreichen Ausgangspunkten übereinander hingehen,
als ein Ganzes einteilen kann.
Aber dann ist doch, könnte man meinen, eine Einteilung nach den Gegenständen
- den Ausgangspunkten der Wellenkreise - möglich und grundlegend. Etwa in der Rei-
henfolge aufsteigender Abhängigkeit von den je früheren: Physik und Chemie, Bio-
logie, Psychologie, Soziologie. Das wäre eine Reihe der das Allgemeine suchenden
Wissenschaften. Oder: Geschichte des Kosmos, Erdgeschichte, Lebensgeschichte,
Menschheitsgeschichte, europäische Geschichte. Das wäre eine Reihe der auf das Ein-
malige und daher Individuelle gehenden Wissenschaften. Man sieht, daß sogleich
schon wieder eine der Polaritäten bei der Einstellung mitwirkt. Ferner würde sich bei
näherer Vergegenwärtigung zeigen, daß zwar einzelne Wissenschaften in solcher Ein-
teilung einigermaßen zutreffend, wenigstens nach einer ihrer Seiten, charakterisierbar
sind, daß aber eine wirkliche Einteilung auch hier nicht erreicht wird, sondern nur eine
Gruppierung, die soweit anspricht, als sie jeweils einzelne faktische Wissenschaftsge-
biete trifft.
Das eine liegt bei einem Schema der Wissenschaftseinteilung zumeist in einer
durch das Schema bevorzugten Wissenschaft. Die Tatsache, daß fast alle Wissenschaf-
ten sich gelegentlich zu den eigentlichen, allumfassenden Wissenschaften verabsolu-
tiert haben, hat seinen sinnvollen Grund. Er liegt darin, daß jede echte Wissenschaft
ein Ganzes ist. Der Irrtum liegt darin, daß dabei die anderen konkreten Ganzheiten
des Erkennens in ihrem eigenen Ursprung nicht mehr gesehen werden, so daß eine
Die Idee der Universität [1946]
mathematische Konstruktionen, die Geisteswissenschaften verstehen von innen
durch Sinngesetze.
Gesetzes-Wissenschaften und historische Wissenschaften: Gesetzeswissenschaften su-
chen das Allgemeine, historische das je einmalige Individuum zu erkennen.
Grundwissenschaften und Hilfswissenschaften: Grundwissenschaften sind solche,
die in der Tat aus dem Ganzen des Wissens das Licht in sich sammeln, daher das Ganze
vertreten, insofern einen universalen Charakter haben. Hilfswissenschaften sind
solche, in denen entweder nur gesammelt, Stoff herbeigebracht wird, oder in denen
für praktische Einzelzwecke Zusammenstellungen des hier brauchbaren Wissens er-
folgen.
Alle diese Polaritäten, in denen wissenschaftliches Erkennen zu Gegensätzen aus-
einandertritt, sind in sich verbunden. Nur vorübergehend kann das Entgegengesetzte
unter Ablösung des anderen Pols sich trennen: es wird dann alsbald unfruchtbar. Das
Wesen der konkreten Wissenschaften ist, daß je der eine Pol mit dem andern zur Gel-
tung kommt. Keineswegs sind die Wissenschaften in je zwei Gruppen sauber und ra-
dikal zu trennen.
Die konkreten Wissenschaften sind charakterisiert durch ihren Gegenstand, des-
77 sen Grund sie mit allen Methoden näher | zu kommen suchen. Daher gelingt es nicht,
eine Einteilung der Wissenschaften zu gewinnen, so wenig man die Wellenkreise ei-
ner Wasseroberfläche, die aus zahlreichen Ausgangspunkten übereinander hingehen,
als ein Ganzes einteilen kann.
Aber dann ist doch, könnte man meinen, eine Einteilung nach den Gegenständen
- den Ausgangspunkten der Wellenkreise - möglich und grundlegend. Etwa in der Rei-
henfolge aufsteigender Abhängigkeit von den je früheren: Physik und Chemie, Bio-
logie, Psychologie, Soziologie. Das wäre eine Reihe der das Allgemeine suchenden
Wissenschaften. Oder: Geschichte des Kosmos, Erdgeschichte, Lebensgeschichte,
Menschheitsgeschichte, europäische Geschichte. Das wäre eine Reihe der auf das Ein-
malige und daher Individuelle gehenden Wissenschaften. Man sieht, daß sogleich
schon wieder eine der Polaritäten bei der Einstellung mitwirkt. Ferner würde sich bei
näherer Vergegenwärtigung zeigen, daß zwar einzelne Wissenschaften in solcher Ein-
teilung einigermaßen zutreffend, wenigstens nach einer ihrer Seiten, charakterisierbar
sind, daß aber eine wirkliche Einteilung auch hier nicht erreicht wird, sondern nur eine
Gruppierung, die soweit anspricht, als sie jeweils einzelne faktische Wissenschaftsge-
biete trifft.
Das eine liegt bei einem Schema der Wissenschaftseinteilung zumeist in einer
durch das Schema bevorzugten Wissenschaft. Die Tatsache, daß fast alle Wissenschaf-
ten sich gelegentlich zu den eigentlichen, allumfassenden Wissenschaften verabsolu-
tiert haben, hat seinen sinnvollen Grund. Er liegt darin, daß jede echte Wissenschaft
ein Ganzes ist. Der Irrtum liegt darin, daß dabei die anderen konkreten Ganzheiten
des Erkennens in ihrem eigenen Ursprung nicht mehr gesehen werden, so daß eine