Metadaten

Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 21): Schriften zur Universitätsidee — Basel: Schwabe Verlag, 2016

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51221#0250
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Die Idee der Universität [1946]

175

bar sind. Man macht sich das Urteil über Menschen durchweg zu leicht. Das Studium
der Charaktere und Begabungen ist von hohem Interesse, aber am Ende steht das klare
Nichtwissen, das den Raum frei hält für eigentliche Erziehung und für den Anspruch
des Menschen an sich selbst.
a) Erziehung trifft sinnvoll auf den Menschen, der keineswegs eindeutig ist, was er
ist. Es kommt darauf an, wie er von Jugend auf geprägt wird. Nicht allein eine nachweis-
bare unveränderliche Bestimmtheit der Anlage entscheidet, sondern von vornherein
nicht übersehbare Möglichkeiten, mit deren Verwirklichung immer zugleich andere
Möglichkeiten vernichtet werden. Ein Geist des Hauses, der Anstalt, der Gemeinschaft,
der Öffentlichkeit formt durch die Weisen des darin gewohnten und von selber sich auf-
zwingenden Benehmens und Sprechens, der unwillkürlich anerkannten Symbole und
Worte, durch Ansprüche und Formen. Nach dem Erscheinungsbild einer Menschen-
gruppe zu urteilen, was diese Menschen ihrem Wesen nach seien, ist immer ungerecht,
wenn man nicht die ihnen zuteil gewordene und täglich zuteil werdende Erziehung ver-
gegenwärtigt. Man müßte sehen, was aus ihnen unter einer anderen Erziehung würde,
um weiter zu erfahren und doch nie endgültig zu wissen, was sie sein können. Der Mut
zur Erziehung beruht auf dem Vertrauen in schlummernde Möglichkeiten.
b) Kein Mensch kann von sich wissen, wer er ist und wozu er fähig ist. Er muß es
versuchen. Nur der Ernst des Entschlusses, für den das Gewissen nur im einzelnen
selbst spricht, und für den kein Urteil von außen die Verantwortung übernehmen darf,
entscheidet über den zu versuchenden Weg. Was durch Arbeit und inneres Handeln120
aus mir werden kann, kann ich nicht vorher wissen. Fichte rät geradezu ab von der
Selbstprüfung der Begabung. Wer in die Lage gekommen ist, zu studieren, soll sich be-
trachten als angehenden Gelehrten; denn man soll in jeder Lage tun, was in dieser
Lage geschehen muß.55 Wer einmal in die Situation gestellt ist, geistig zu werden, der
soll voraussetzen, daß er zum Besten berufen ist; d.h. daraus keinerlei Anspruch, aber
Verpflichtung herleiten.
| Alles in allem: Die Menschen sind nicht feststehende Artungen, die unveränder- 97
lieh wie Tiere - sei es zu verwenden, sei es nicht zu brauchen - sind, sondern sie blei-
ben im Werden als je so Gewordene voll verborgener Möglichkeiten.

2. Die Verteilung der Begabungen und die Eigenschaften der Masse
In aller Gesellschaft gibt es Unterschiede der materiellen Wohlfahrt, gibt es vor allem
unvermeidlich den Unterschied der Über- und Untergeordneten. Das Ideal ist, daß die
hervorragendsten Menschen auch die Führenden sind, daß die Hierarchie der gesell-
schaftlichen Ordnung zusammenfällt mit der Hierarchie der persönlichen Rang- und
Begabungsunterschiede. Es ist das Ideal, das von Plato formuliert wurde, nach dem die
staatlichen Verhältnisse erst besser werden würden, wenn die Philosophen Staatslen-
ker oder die Staatslenker Philosophen würden.50
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften