Die Idee der Universität. Für die gegenwärtige Situation entworfen [1961]
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den Bildungsidealen. Es gab Standesschulen, Ritterakademien, Privatunterricht der
Aristokraten und Patrizier. Alle Demokratie verlangt gemeisame Erziehung, weil nichts
den Menschen so sehr einen gemeinschaftlichen Boden schafft als die gleiche
Erziehung.
Sehen wir nun von der soziologischen und historischen Bedingtheit ab und suchen
wir sachliche Grundformen der Erziehung auf, so zeigen sich folgende drei Möglich-
keiten.
a) Scholastische Erziehung:39 Die Erziehung beschränkt sich auf das bloße »tradere«.40
Der Lehrer reproduziert nur, ist nicht selbst lebendiger Forscher. Der Lehrstoff ist Sy-
stem. Es gibt autoritative Schriftsteller und Bücher. Der Lehrer wird unpersönlich, er ist
nur als Vertreter, der durch jeden anderen ersetzbar ist. Der Stoff ist in Formeln gepreßt.
Im Mittelalter diktierte man und kommentierte. Das Diktieren fällt heute fort, da es
durch Bücher ersetzbar ist. Der Sinn aber ist auch heute noch denkbar und wirklich.
Man ordnet sich einem Ganzen unter, in dem man geborgen ist, ohne sich einer einzel-
nen Persönlichkeit zu verschreiben. Das Wissen ist endgültig fixiert. Die Gesinnung ist:
man will das Feste lernen, die Ergebnisse sich aneignen, »schwarz auf weiß nach Hause
tragen«.41 - Das Scholastische bleibt eine unumgängliche Basis der rationalen Tradition.
b) Meistererziehung:42 Maßgebend ist nicht eine unpersönliche Tradition, sondern
eine Persönlichkeit, welche als einzig empfunden wird. Die ihr gezollte Verehrung
und Liebe haben einen Zug von Unterwerfung. Die Distanz in Unterordnung setzt
nicht nur einen Unterschied des Grades, nicht nur einen Unterschied der Generatio-
nen, sondern einen qualitativen Unterschied. Die Autorität der Persönlichkeit hat eine
wunderbare Kraft. Es finden sich zusammen das Bedürfnis nach Unterordnung, um der
eigenen Verantwortung zu entgehen, die Erleichterung im Sichanhängen, die Steige-
rung des sonst geringen Selbstbewußtseins durch die Zugehörigkeit zu einem solchen
Bunde,237 das Verlangen nach strenger Erziehung, die aus eigener Kraft nicht gelingt.
| c) Sokratische Erziehung:44 Lehrer und Schüler stehen dem Sinn nach auf gleichem
Niveau. Beide sind der Idee nach frei. Es gibt keine feste Lehre, sondern es herrscht das
grenzenlose Fragen und das Nichtwissen im Absoluten. Die persönliche Verantwor-
tung wird damit auf das äußerste gebracht und nirgends erleichtert. Die Erziehung ist
eine »mäeutische«,45 d.h. es wird den Kräften im Schüler zur Geburt verholten, es wer-
den in ihm vorhandene Möglichkeiten geweckt, aber nicht von außen aufgezwungen.
Nicht das zufällige, empirische Individuum in seiner besonderen Artung kommt zur
Geltung, sondern ein Selbst, das im unendlichen Prozesse zu sich kommt, indem es
sich verwirklicht. Dem Drange der Schüler, den Lehrer zur Autorität und zum Meister
zu machen, widersteht der sokratische Lehrer als der größten Verführung der Schüler:
er weist sie von sich auf sich selbst zurück; er versteckt sich in Paradoxien, macht sich
unzugänglich. Es gibt nur kämpfende Liebe37 als Prozeß zwischen ihnen, nicht sich
unterwerfendes Anhängen. Der Lehrer weiß sich als Mensch und er fordert, daß der
Schüler Mensch und Gott unterscheide.
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den Bildungsidealen. Es gab Standesschulen, Ritterakademien, Privatunterricht der
Aristokraten und Patrizier. Alle Demokratie verlangt gemeisame Erziehung, weil nichts
den Menschen so sehr einen gemeinschaftlichen Boden schafft als die gleiche
Erziehung.
Sehen wir nun von der soziologischen und historischen Bedingtheit ab und suchen
wir sachliche Grundformen der Erziehung auf, so zeigen sich folgende drei Möglich-
keiten.
a) Scholastische Erziehung:39 Die Erziehung beschränkt sich auf das bloße »tradere«.40
Der Lehrer reproduziert nur, ist nicht selbst lebendiger Forscher. Der Lehrstoff ist Sy-
stem. Es gibt autoritative Schriftsteller und Bücher. Der Lehrer wird unpersönlich, er ist
nur als Vertreter, der durch jeden anderen ersetzbar ist. Der Stoff ist in Formeln gepreßt.
Im Mittelalter diktierte man und kommentierte. Das Diktieren fällt heute fort, da es
durch Bücher ersetzbar ist. Der Sinn aber ist auch heute noch denkbar und wirklich.
Man ordnet sich einem Ganzen unter, in dem man geborgen ist, ohne sich einer einzel-
nen Persönlichkeit zu verschreiben. Das Wissen ist endgültig fixiert. Die Gesinnung ist:
man will das Feste lernen, die Ergebnisse sich aneignen, »schwarz auf weiß nach Hause
tragen«.41 - Das Scholastische bleibt eine unumgängliche Basis der rationalen Tradition.
b) Meistererziehung:42 Maßgebend ist nicht eine unpersönliche Tradition, sondern
eine Persönlichkeit, welche als einzig empfunden wird. Die ihr gezollte Verehrung
und Liebe haben einen Zug von Unterwerfung. Die Distanz in Unterordnung setzt
nicht nur einen Unterschied des Grades, nicht nur einen Unterschied der Generatio-
nen, sondern einen qualitativen Unterschied. Die Autorität der Persönlichkeit hat eine
wunderbare Kraft. Es finden sich zusammen das Bedürfnis nach Unterordnung, um der
eigenen Verantwortung zu entgehen, die Erleichterung im Sichanhängen, die Steige-
rung des sonst geringen Selbstbewußtseins durch die Zugehörigkeit zu einem solchen
Bunde,237 das Verlangen nach strenger Erziehung, die aus eigener Kraft nicht gelingt.
| c) Sokratische Erziehung:44 Lehrer und Schüler stehen dem Sinn nach auf gleichem
Niveau. Beide sind der Idee nach frei. Es gibt keine feste Lehre, sondern es herrscht das
grenzenlose Fragen und das Nichtwissen im Absoluten. Die persönliche Verantwor-
tung wird damit auf das äußerste gebracht und nirgends erleichtert. Die Erziehung ist
eine »mäeutische«,45 d.h. es wird den Kräften im Schüler zur Geburt verholten, es wer-
den in ihm vorhandene Möglichkeiten geweckt, aber nicht von außen aufgezwungen.
Nicht das zufällige, empirische Individuum in seiner besonderen Artung kommt zur
Geltung, sondern ein Selbst, das im unendlichen Prozesse zu sich kommt, indem es
sich verwirklicht. Dem Drange der Schüler, den Lehrer zur Autorität und zum Meister
zu machen, widersteht der sokratische Lehrer als der größten Verführung der Schüler:
er weist sie von sich auf sich selbst zurück; er versteckt sich in Paradoxien, macht sich
unzugänglich. Es gibt nur kämpfende Liebe37 als Prozeß zwischen ihnen, nicht sich
unterwerfendes Anhängen. Der Lehrer weiß sich als Mensch und er fordert, daß der
Schüler Mensch und Gott unterscheide.
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