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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2004 — 2004

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I. Das Geschäftsjahr 2004
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Sitzung der Phil.-hist. Klasse am 7. Mai 2004
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Knapp, Fritz Peter: Sein oder Nichtsein: Erkenntnis, Sprache, Geschichte, Dichtung und Fiktion im Hochmittelalter
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https://doi.org/10.11588/diglit.66960#0066
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SITZUNGEN

lichkeit, sei es in Form abstruser Verfälschung, sei es in Form unvollkommener
Nachbildung (im Sinne Platons). Auf jeden Fall sah Abaelard in diesen figmenta weder
Substanzen noch Akzidentien. Sie waren non existentiae verae, keine wahren Existen-
zen, also Nichtseiendes. Man darf dem Mittelalter also nicht unterstellen, ihm sei es
gar nicht oder nicht primär um die Erkenntnis der Wirklichkeit, sondern vielmehr
einer wie immer gearteten tieferen Wahrheit gegangen, denn gemäß der damaligen
Weltanschauung ist das real Seiende eben zugleich das Wahre und Gute. Die von
Gott geschaffene und geordnete (natürliche und historische) Wirklichkeit zu erfas-
sen, zu verstehen und zum Heil der Seele zu nutzen, ist dem Menschen aufgetragen.
Was Dichtung dazu beitragen kann, hängt von ihrer Wesensbestimmung ab. Das eine
Extrem ist die Gleichsetzung der Poeten mit den Erfindern antichristlicher Mythen.
Im entgegengesetzten Extremfall setzt man einfach jede Verwendung poetischer oder
auch nur rhetorischer Sprache mit Dichtung gleich, die dann zwar immer noch dem
Verdikt der vanitas ausgesetzt sein, aber durchaus Erkenntnisrelevantes bringen
mochte, sofern der Inhalt „stimmte“. Im Falle epischer Dichtung „stimmte“ der
Inhalt grundsätzlich, wenn er ein historischer war. An die Stelle der historia (literari-
schen Geschichtsdarstellung) konnte keinesfalls einfach eine „realistische“ Erzählung
treten, die als Fiktion doch keinen historischen Anspruch im strikten Sinne erhob.
Das Wahrscheinliche war um 1200 immer noch zu sehr der Fiktion verdächtig, als
daß es das Wahre, die historische Faktizität, ersetzen und nicht bloß ergänzen hätte
dürfen. Eine solche Ergänzung der Historie durch „funktionale“ Fiktion nach dem
Prinzip der Wahrscheinlichkeit galt jedoch als legitim und wurde auch extensiv
genutzt, bis zur Geschichtsfälschung, die jedoch erst recht als Geschichte auftrat.
Schon damit ist gesagt, daß mittelalterliche historia sich niemals darin erschöpfen
konnte, eine vorgegebene Wahrheit zu vermitteln. Innerhalb des generellen christ-
lich-katholischen weltanschaulichen Rahmens bleiben unzählige Fragen zu beant-
worten und Probleme zu lösen, und zwar nicht zuletzt im Verstehen von Geschich-
te und allgemein von menschlichem Handeln, das im Mittelpunkt aller erzählenden
Dichtung steht.
Nichtsdestoweniger läßt sich die von Walter Haug 1985 vorgetragene auf-
sehenerregende These von einer „Entdeckung der Fiktionalität“ im 12. Jahrhundert
aufrecht erhalten, dies aber nicht deshalb, weil durch diese Fiktionalität „eine Los-
lösung von jeglicher immer schon vorgegebenen Wahrheit“ erfolgt, sondern „nur“
eine Loslösung von der Wahrheit des Seins. Dieser Schritt ist wahrhaft revolutionär
genug zu nennen. Er konnte sich keiner literaturtheoretischen Stütze zur Rechtfer-
tigung bedienen. Chretien de Troyes, der Erfinder des Artusromans im 12. Jahrhun-
dert, ignoriert einfach die Vorgaben der theologisch regierten Poetik. Er verläßt sich
auf die Wahrheit des Wortes, schafft also im theologischen Sinne nur Nichtseiendes.
Den Sinn erzeugt allein die Symbolstruktur des fiktionalen Romans im Erzählpro-
zeß. Zur Unabhängigkeitserklärung des Erzählens liefert der Roman eindeutige Sig-
nale der Wahrheitsindifferenz, am deutlichsten durch das märchenhaft Wunderbare,
welches im Prinzip selbstverständlich, unmotiviert, unerklärbar, unerklärt, weil kei-
ner Erklärung bedürftig ist. Es ist fein dosiert und unaufdringlich, imprägniert aber
das Erzählganze, auch ganz alltägliche Handlungsvorgänge, mit dem Zauber des mär-
 
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