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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2004 — 2004

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I. Das Geschäftsjahr 2004
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Sitzung der Phil.-hist. Klasse am 9. Juli 2004
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Esser, Hartmut: Der Anstieg der Scheidungsraten
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https://doi.org/10.11588/diglit.66960#0075
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9. Juli 2004

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Opportunitäten für das Finden eines neuen Partners oder für em einigermaßen
erträgliches Singleleben gibt, wie bei der Erwerbstätigkeit der Frau. Mit diesem
Ansatz lassen sich die geläufigsten empirischen Regelmäßigkeiten der Scheidungen
bereits ganz gut erklären, wie die Zunahme des Scheidungsrisikos in der Tat dann,
wenn es keine Kinder und kein gemeinsames Eigentum gibt, wenn der Mann
arbeitslos und/oder die Frau erwerbstätig ist, oder die höheren Scheidungsraten in
den Großstädten. Gewisse Probleme hatte dieser „ökonomische“ Ansatz, der davon
ausgeht, dass die Partner eigentlich beständig Nutzen und Kosten ihres Zusammen-
lebens kalkulieren, aber immer schon bei der Erklärung der empirisch feststellbaren
Wirksamkeit einiger nicht-materieller Umstände: eine stärkere Religiosität verrin-
gert das Scheidungsrisiko deutlich, und vorherige Trennungserfahrungen oder die
Erfahrung einer Scheidung der Eltern erhöhen es.Vor allem aber zeigte sich immer
dann, wenn das überhaupt erfasst wurde, dass die kirchliche Heirat, auch unabhängig
von der Religiosität, einen starken eigenständigen Effekt auf die Stabilisierung hatte,
und dafür ist es schon recht schwer eine ausschließlich „rationale“ Erklärung zu fin-
den. Die Becker-Theorie macht außerdem eine ganz spezielle Aussage zum Auftre-
ten von Ehekrisen. Danach tritt im Prinzip bei allen Paaren nach relativ kurzer Zeit
eine Anpassungskrise auf, die mit der Umstellung auf eine gewisse arbeitsteilige Auf-
gabenverteilung im Alltag zu tun hat. Je nach den weiteren Umständen fällt diese
Krise unterschiedlich stark aus, und einige Paare lassen sich dann auch scheiden, aber
einen gewissen Abfall des Glücks und des Verstehens müsste es eigentlich für alle
Paare geben.
Für alle Paare sind danach die Vorgänge im Grunde gleich. Die qualitative Stu-
die mit den 17 Paaren erbrachte freilich ein vollkommen anderes Bild. Es gab in der
Tat einige Paare, die den vorausgesagten Weg in die Krise gingen, aber anders als
gedacht, nämlich gleich zu Beginn und dann immer wieder, und Trennungen gab es
in den vier Jahren nur bei diesen Paaren. Bei den meisten Paaren gab es jedoch die
Krise nicht, auch nicht nach längerer Zeit oder wenn die Umstellungen in der Orga-
nisation der Ehe anstanden. Offensichtlich gab es also zwei sehr verschiedene Typen
von Paaren: solche, die von vornherein nicht „passten“ und dann beständig auch
„rational“ über den Fortbestand ihrer Beziehungen reflektierten und stritten, und
solche, bei denen jeder Gedanke an Trennung fehlte und die alle alltäglichen Schwie-
rigkeiten und biographischen Ereignisse in den festen Rahmen einer von ihnen als
Individuen nicht weiter antastbaren, übergreifenden Ordnung ansahen, ganz so, wie
das in den religiösen Begründungen der Ehe gedacht wird.
Das Konzept der, auch symbolisch und rituell bekräftigten, „Rahmung“ von
Ehen erwies sich in der dann folgenden großen quantitativen Untersuchung mit ca.
5000 Paaren als überaus erklärungskräftig. Wie in der qualitativen Studie mit den 17
Paaren zeigte sich, dass es ganz unterschiedliche Typen von Paaren gab, die sich ins-
besondere nach der Stärke der Rahmung ihrer Beziehung als „kollektive“ und als
unantastbar angesehene Einheit unterschieden. Vor allem erwies sich, dass (ernsthaf-
te) Ehekrisen so gut wie nur bei einer schwachen Rahmung und dann gleich zu
Beginn auftreten. Gibt es solche ernsthaften Krisen aber einmal, dann ist die Tren-
nung nicht mehr fern, und in diesem Fall hält die Ehe nur noch das zusammen, was
 
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