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Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2004 — 2004

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I. Das Geschäftsjahr 2004
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Sitzung der Phil.-hist. Klasse am 27. November 2004
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Theißen, Gerd: Die Entstehung des Neuen Testaments als literaturgeschichtliches Problem
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https://doi.org/10.11588/diglit.66960#0085
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21. November 2004

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Reuchlin-Briefwechsel: Herr Kühlmann wird anstelle von Herrn Hengel, der um
seine Entpflichtung gebeten hatte, in die Kommission gewählt.
Evaluationen 2004: Die Kommissionsvorsitzenden berichten über die Ergebnisse
der Evaluation der von ihnen jeweils betreuten Forschungsprojekte, und zwar:
Herr E. A. Schmidt (Annee Philologique), Herr Seebaß (Melanchthon-Brief-
wechsel), Herr Nörr (Deutsches Rechtswörterbuch) und Herr Heckel (Luther-
Register). Über die Evaluation von Thescra soll auf der nächsten Klassensitzung
berichtet werden.

WISSENSCHAFTLICHE SITZUNG
Herr Gerd Theißen hält einen Vortrag: „Die Entstehung des Neuen Testaments als
literaturgeschichtliches Problem“.
Das Neue Testament (NT) umfasst Evangelien und Briefe als Grundformen, Apo-
stelgeschichte, Apokalypse und den Hebräerbrief (eine Rede) als nur einmal belegte
Gattung. Eine Literaturgeschichte stellt ihre geschichtliche Entwicklung dar und
ordnet sie in die antike Literaturgeschichte em. Ihr Sondercharakter wird in der For-
schung dreifach bestimmt: Als Urliteratur ist das NT eine originäre Schöpfung des
Urchristentums, als Kleinliteratur Produkt literaturferner Unterschichten, als Koine-
literatur em Teil der durch die Septuaginta (LXX) bestimmtenjüdisch-hellenistischen
Sonderliteratur. Aber nicht alle neutestamentlichen Schriften sind schöpferische
Urliteratur; zehn sind gefälscht. Alle sind zwar Kleinliteratur, aber ihre Autoren
gehören nicht zur unliterarischen Unterschicht. Alle entstanden unter dem Einfluss
der LXX, aber Evangelium und Briefsammlung haben außerhalb der LXX Vorbil-
der. Eine Literaturgeschichte des NT kann manche Probleme lösen, indem sie ver-
schiedene Phasen unterscheidet und zeigt: Es handelt sich um eine Literatur, für die
Grenzüberschreitungen charakteristisch sind.
Die charismatischen Anfänge: Jesusüberlieferungen existierten am Anfang münd-
lich, die Briefe des Paulus schriftlich. Der Adressatenkreis beschränkte sich auf das
jüdische Volk bzw. einzelne heidenchristliche Gemeinden. Die Jesusüberlieferungen
wurden erst nachträglich durch Verschriftlichung, die Paulusbriefe durch ihre Edition
als Briefsammlung zur „Literatur“ mit allgemeinem Adressatenkreis. Nur für diese
erste Phase ist der Begriff „Urliteratur“ (= entstehende Literatur) berechtigt, aber
nicht im Sinne analogieloser Schöpfungen. Denn das Evangelium war ein Bios, das
in der nicht-jüdischen Literatur viele Modelle hatte. Alle Evangelien weiten die Ver-
kündigung Jesu auf nicht-jüdische Adressaten aus. Diese Universalisierung zeigt sich
im Begriff euaggelion, das weltweit verkündigt werden soll (Mk 13,10; 14,9). Mk
greift mit seinem Bios formal die Ausdrucksform einer literarischen Oberschicht auf
und füllt sie als euaggelion mit einer Kommunikationsform der imperialen Ober-
schicht: Denn sein Evangelium konkurrierte mit den euaggelia vom Aufstieg Vespa-
sians zum Kaiser. Paulus hatte zu dieser Zeit schon den Privat- zum Gemeindebrief
entwickelt. Sein Brief an die Römer steht auf der Schwelle zur Publizistik. Auch in
ihm begegnet der Begriff euaggelion als Proklamation eines Herrschers (Röm 1,1-3).
 
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