106 | ÖFFENTLICHE VERANSTALTUNGEN
selbst — ihr Zusammenwirken freilich besser organisieren und sichtbarer in Erschei-
nung treten lassen. Wäre das schon vor zehn Jahren geschehen, so stünden die Dinge
heute besser. Aber noch ist die Chance nicht versäumt. Ich bin Minister Frankenberg
deshalb dankbar dafür, daß er mir zugesichert hat, das Land werde Planungen, die
über die bestehenden Akademien einfach hinweggehen, im Wissenschaftsrat nicht
zustimmen.
Ein letzter Satz zum Thema dieses Abends. Wir haben es bewußt gewählt. Wir
wollten diese Begegnung nicht für ein Heimspiel der Wissenschaft auf ihrem urei-
gensten Gelände nutzen. Wir wollten sie nutzen, um zu zeigen, daß das Gespräch
zwischen Politik und Wissenschaft gerade auch bei einem ganz aktuellen, öffentlich
kontrovers diskutierten, demnächst vielleicht politisch umkämpften Thema ertrag-
reich sein kann. Ich hoffe, daß uns das gelingt.
Hören wir also, was uns Eduard Picker, Rechtswissenschaftler aus Tübingen,
und Manfred Schmidt, Politikwissenschaftler aus Heidelberg, beide Akademiemit-
glieder, zu diesem Thema zu sagen haben. Ihnen allen danke ich herzlich dafür, daß
Sie gekommen sind.
EDUARD PICKER: „DIE ZUKUNFT DER TAR! F A U TO N O MIE "
Die Gegenwart der Tarifautonomie macht einen Zwiespalt von Überhöhung und
Erosion offenbar, der deutliche Krisensymptome zeigt: Einerseits bewirkt eine um
die Legitimation dieser Regelungsmacht unbekümmerte, bis zur Tabuisierung
getriebene Anerkennung, daß die „Kollektivautonomie“ des Verbands die Privat-
autonomie seiner Mitglieder unterläuft und daß der Regelungsanspruch der Korpo-
ration selbst die Gestaltungsbefugnis des Staates verdrängt. Andererseits ist die
Rechtswirklichkeit gekennzeichnet durch einen weithin geübten verdeckten Bruch
der tarifvertraglichen Bindung, durch eine massive Verbandsflucht und durch die
offenen Forderungen, die Rechtsfigur als überlebt aufzugeben.
Diese Lage verlangt die Rückbesinnung auf die Vergangenheit der Tarifauto-
nomie. Denn diese liefert den Schlüssel zu ihrer systemgerechten heutigen Deutung:
Legitimatorischer Grund der Regelungsmacht der Verbände ist genetisch nicht eine
originäre eigene Autonomie der Korporation. Deren Handlungsbefugnis ist aus dem
Zweck erwachsen, die „strukturelle“ Unterlegenheit des Arbeitnehmers gegenüber
dem Arbeitgeber durch Assoziierung zu kompensieren, um so den zum Durchbruch
gekommenen „freien Arbeitsvertrag“ funktionsfähig zu erhalten. Die Macht des Kol-
lektivs hatte und hat also im Mandat des Individuums ihren Grund. Legitimation
und Schutzgut der Tarifautonomie ist folglich allein die Privatautonomie des einzel-
nen Mitglieds. Und diese Rechtfertigung bestimmt und begrenzt Inhalt und Reich-
weite ihrer Zuständigkeit, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen unter Inan-
spruchnahme von Normsetzungs- und Kartellierungsbefugnissen zu gestalten: Nicht
die Fremdbestimmung der Parteien des Arbeitsvertrags ist ihr Ziel. Sie will im
Gegenteil deren Selbstbestimmung beim marktmäßig-rechtsgeschäftlichen
„Umsatz“ der Arbeit sichern. Dem entspricht, daß sie auch der Regelungsmacht des
selbst — ihr Zusammenwirken freilich besser organisieren und sichtbarer in Erschei-
nung treten lassen. Wäre das schon vor zehn Jahren geschehen, so stünden die Dinge
heute besser. Aber noch ist die Chance nicht versäumt. Ich bin Minister Frankenberg
deshalb dankbar dafür, daß er mir zugesichert hat, das Land werde Planungen, die
über die bestehenden Akademien einfach hinweggehen, im Wissenschaftsrat nicht
zustimmen.
Ein letzter Satz zum Thema dieses Abends. Wir haben es bewußt gewählt. Wir
wollten diese Begegnung nicht für ein Heimspiel der Wissenschaft auf ihrem urei-
gensten Gelände nutzen. Wir wollten sie nutzen, um zu zeigen, daß das Gespräch
zwischen Politik und Wissenschaft gerade auch bei einem ganz aktuellen, öffentlich
kontrovers diskutierten, demnächst vielleicht politisch umkämpften Thema ertrag-
reich sein kann. Ich hoffe, daß uns das gelingt.
Hören wir also, was uns Eduard Picker, Rechtswissenschaftler aus Tübingen,
und Manfred Schmidt, Politikwissenschaftler aus Heidelberg, beide Akademiemit-
glieder, zu diesem Thema zu sagen haben. Ihnen allen danke ich herzlich dafür, daß
Sie gekommen sind.
EDUARD PICKER: „DIE ZUKUNFT DER TAR! F A U TO N O MIE "
Die Gegenwart der Tarifautonomie macht einen Zwiespalt von Überhöhung und
Erosion offenbar, der deutliche Krisensymptome zeigt: Einerseits bewirkt eine um
die Legitimation dieser Regelungsmacht unbekümmerte, bis zur Tabuisierung
getriebene Anerkennung, daß die „Kollektivautonomie“ des Verbands die Privat-
autonomie seiner Mitglieder unterläuft und daß der Regelungsanspruch der Korpo-
ration selbst die Gestaltungsbefugnis des Staates verdrängt. Andererseits ist die
Rechtswirklichkeit gekennzeichnet durch einen weithin geübten verdeckten Bruch
der tarifvertraglichen Bindung, durch eine massive Verbandsflucht und durch die
offenen Forderungen, die Rechtsfigur als überlebt aufzugeben.
Diese Lage verlangt die Rückbesinnung auf die Vergangenheit der Tarifauto-
nomie. Denn diese liefert den Schlüssel zu ihrer systemgerechten heutigen Deutung:
Legitimatorischer Grund der Regelungsmacht der Verbände ist genetisch nicht eine
originäre eigene Autonomie der Korporation. Deren Handlungsbefugnis ist aus dem
Zweck erwachsen, die „strukturelle“ Unterlegenheit des Arbeitnehmers gegenüber
dem Arbeitgeber durch Assoziierung zu kompensieren, um so den zum Durchbruch
gekommenen „freien Arbeitsvertrag“ funktionsfähig zu erhalten. Die Macht des Kol-
lektivs hatte und hat also im Mandat des Individuums ihren Grund. Legitimation
und Schutzgut der Tarifautonomie ist folglich allein die Privatautonomie des einzel-
nen Mitglieds. Und diese Rechtfertigung bestimmt und begrenzt Inhalt und Reich-
weite ihrer Zuständigkeit, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen unter Inan-
spruchnahme von Normsetzungs- und Kartellierungsbefugnissen zu gestalten: Nicht
die Fremdbestimmung der Parteien des Arbeitsvertrags ist ihr Ziel. Sie will im
Gegenteil deren Selbstbestimmung beim marktmäßig-rechtsgeschäftlichen
„Umsatz“ der Arbeit sichern. Dem entspricht, daß sie auch der Regelungsmacht des