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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2004 — 2004

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I. Das Geschäftsjahr 2004
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Assmann, Jan: Moshe Barasch (10.10.1920-7.7.2004)
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Moshe Barasch | 153

nell, Yale, Harvard regelmäßige Gastprofessuren wahrnahm. Forschungsaufenthalte
führten ihn ans Getty Research Center in Los Angeles und ans Institute for Advan-
ced Study in Princeton. Für Barasch, der ehrenvollste Berufungen ms Ausland
zugunsten seiner Lebensaufgabe in Jerusalem ablehnte, war die Internationalität der
Wissenschaft immer ein Prinzip, das er in allen Bereichen seines Wirkens durchzu-
setzen bestrebt war, und auch seinen Studenten ermöglichte er, wo es nur irgend
anging, ein Studium im Ausland.
In wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht gehörte Barasch zur Tradition der
Warburg-Schule und kann als ihr bedeutendster Fortsetzer gelten. Diese Schule ver-
steht Kunst nicht als autonome ästhetische Provinz des menschlichen Geisteslebens,
sondern als eine symbolische Form im Rahmen einer Gesellschaft, ihrer Epoche und
kulturellen Semantik. Das heißt, daß das Kunstwerk in allen Einzelheiten seiner
Farbgebung, Komposition und Thematik als das Resultat und der physiognomische
Ausdruck seiner kulturellen und sozialen Rahmenbedingungen im Blick steht und
Einblicke in religiöse Grundlagen, philosophische Diskussionen, soziale Strukturen
und kulturelle Rahmenfunktionen eröffnet. Barasch vertrat das Fach im Sinne einer
umfassenden Ideen- und Kulturgeschichte, wie schon die Titel seiner Bücher zeigen,
z.B. Gestirns of Despair in Medieval and Early Renaissance Art, Light and Color in Italian
Renaissance Theory ofArt, Theories ofArt, Modern Theories ofArt I-II, Giotto and the Lan-
gnage of Gestirn, Imago Hominis: Studies in the History ofArt, Icon: Studies in the History
of an Idea,The Language ofArt, Das Gottesbild, Blindness. Der Tod riß Barasch aus min-
destens fünf Buchprojekten, die größtenteils der Vollendung nahe waren und die
ganze Reichweite seiner Interessen illustrieren: über Besessenheit, Schöpfungsvor-
stellungen und Kreativitätstheorien in der Renaissance, Tränen, Leidenschaften und
Lykanthropie (Verwandlung von Männern in Wölfe).
Neben seinem internationalen Wirken als Kunsthistoriker hatte Barasch sich
auch auf eine sehr maßgebliche Weise im Bildungswesen Israels engagiert. Er leitete
das hochangesehene Verlagshaus Mossad Bialik, in der er die Reihen Sifre Mofed
(Klassiker-Ausgaben) und Sifre Mevo’ot (Einführungen) herausgab. Außerdem orga-
nisierte er über zehn Jahre lang em Studium Generale an der Hebrew Umversity. Für
sein wissenschaftliches Werk und seine Bedeutung im geistigen Leben Israels wurde
er mit dem Israel Preis 1995 ausgezeichnet.
Moshe Barasch gehörte zu den wenigen jüdischen Gelehrten, die über alle
Katastrophen hinweg auch Deutschland die Treue gehalten haben und ein Stück ver-
sunkener deutsch-jüdischer Geistigkeit verkörpern, wie sie in der Warburg-Schule
vielleicht ihren edelsten und am meisten richtungsweisenden Ausdruck gefunden
hat. Schon in den 80er Jahren verlieh ihm die Freie Universität Berlin in Anerken-
nung seiner wissenschaftlichen Verdienste und seiner Verbundenheit mit Deutschland
einen Ehrendoktor. Mit Heidelberg war Barasch besonders eng verbunden; mehr-
fach war er hier in den 90er Jahren zuVorträgen Gast der Universität und der For-
schungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft.
Moshe Barasch war ein herausragender Wissenschaftler und viel mehr als das,
ein Mensch des Geistes, dessen schier grenzenlose Neugier und Spannkraft ihn in
vielen geistigen Welten zugleich zuhause sein und andere darin einbürgern ließ.
 
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