Das WIN-Kolleg
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frühen 13. Jahrhunderts wird dieser weniger als em Prozeß der Emanzipation der
wissenschaftlichen Rationalität von den limitierenden Ansprüchen eines a- oder
sogar antirationalen Glaubens verstanden denn als fortschreitende Dissoziation und
Desintegration von Glauben und Wissen, das einerseits immer höhere Ansprüche an
seine Präzision und Eindeutigkeit stellt, für diese Lösung aus bedingenden Anwen-
dungszusammenhängen aber andererseits eine grundsätzliche Beschränkung der der
verwissenschaftlichten ratio humana zugesprochenen Kompetenzen in Kauf nimmt.
Näherhin vollzieht sich erst eine Eingrenzung dessen, was überhaupt als (‘wissen-
schaftliche’) Rationalität gilt, auf die abstrakt-theoretische, kontextunabhängige
begriffliche Vernunfterkenntnis, die zugleich weitgehend auf die praktische und
Heilsrelevanz verzichtet, die dem Wissen als einer in sich differenzierten Kompetenz
der menschlichen Weitorientierung zuvor selbstverständlich zugesprochen wurde.
Erst durch diese Verschiebung wird der Glaube, der sich zuvor — als Vorgriff auf die
definitive Erfüllung der menschlichen Erkenntnisbemühungen verstanden — als eng
mit der Vernunfterkenntnis verschränkt verstanden hat, zu einer tendenziell irratio-
nalen Haltung. Auf diese Verschiebung verweisen bereits die Kontroversen zwischen
den sogenannten ‘Dialektikern’ (z.B. Berengar von Tours) und ‘Antidialektikern’
(Petrus Damiani, Lanfranc von Bec) in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts.
Die erste Phase der mittelalterlichen Wissenschafts- und Bildungsgeschichte
kennzeichnet durchweg eine erkenntnisoptimistische Konzeption, die zugleich dem
menschlichen Wissen eine funktionale Bedeutung für die Erschließung des Sinns der
sacra pagina, der Heilsgeschichte und der Schöpfung zuweist: Auf der Grundlage na-
mentlich des Augustinischen Verständnisses der doctrina Christiana ist klar, daß Wis-
sen von relativer Heilerheblichkeit möglich ist, weil die menschlichen Erkenntnis-
möglichkeiten von vorne herein beschränkt sind und nicht an die definitive scientia
Dei heranreichen. Angesichts der prinzipiellen Vorläufigkeit des niemals selbstzweck-
haften Wissens kommt individuellen Differenzen kaum grundlegende Bedeutung zu.
Etwa ab der Mitte des 11. Jahrhunderts wird jedoch die Transzendenz Gottes immer
stärker betont und die grundsätzlich erkenntnisoptimistische Grundhaltung aufgege-
ben, insofern von der religiösen ‘Bedeutung4 der geschaffenen Welt (teilweise) abge-
sehen wird; dieses religiöse Motiv bildet ein entscheidendes Movens der Verbegriff-
lichung der Rationalität. Ist unter diesen Prämissen doch Wissen i. e. S. zugänglich,
muß dieses als besondere individuelle Begabung verstanden werden. Das enorme
Selbstbewußtsein, mit dem einzelne Intellektuelle, etwa Abaelard und Gilbert Porre-
ta, auftreten, die Theorie und Praxis scharf unterscheiden und in ihrer Wertigkeit
gegeneinander abstufen, provoziert jedoch die Gegenposition beispielsweise Bern-
hards von Clairvaux, der die Heilserheblichkeit der scientia etwa zugunsten des
Gehorsams gegenüber den göttlichen und kirchlichen Geboten prinzipiell bestreitet
und dem theoretischen Wissen die gläubige Praxis antithetisch gegenüberstellt. Die
Grenzen des humanen Wissens und seiner Relevanz werden so eng gezogen, daß die
Behauptung eines besonderen theoretischen Wissens nur als Anmaßung erscheint.
Demgegenüber repräsentiert Hugo von St. Viktor mit seinem umfassenden exege-
tisch-hermeneutisch grundierten Bildungsprogramm die ‘alte’ Bildungs- und Wis-
senschaftsauffassung.
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frühen 13. Jahrhunderts wird dieser weniger als em Prozeß der Emanzipation der
wissenschaftlichen Rationalität von den limitierenden Ansprüchen eines a- oder
sogar antirationalen Glaubens verstanden denn als fortschreitende Dissoziation und
Desintegration von Glauben und Wissen, das einerseits immer höhere Ansprüche an
seine Präzision und Eindeutigkeit stellt, für diese Lösung aus bedingenden Anwen-
dungszusammenhängen aber andererseits eine grundsätzliche Beschränkung der der
verwissenschaftlichten ratio humana zugesprochenen Kompetenzen in Kauf nimmt.
Näherhin vollzieht sich erst eine Eingrenzung dessen, was überhaupt als (‘wissen-
schaftliche’) Rationalität gilt, auf die abstrakt-theoretische, kontextunabhängige
begriffliche Vernunfterkenntnis, die zugleich weitgehend auf die praktische und
Heilsrelevanz verzichtet, die dem Wissen als einer in sich differenzierten Kompetenz
der menschlichen Weitorientierung zuvor selbstverständlich zugesprochen wurde.
Erst durch diese Verschiebung wird der Glaube, der sich zuvor — als Vorgriff auf die
definitive Erfüllung der menschlichen Erkenntnisbemühungen verstanden — als eng
mit der Vernunfterkenntnis verschränkt verstanden hat, zu einer tendenziell irratio-
nalen Haltung. Auf diese Verschiebung verweisen bereits die Kontroversen zwischen
den sogenannten ‘Dialektikern’ (z.B. Berengar von Tours) und ‘Antidialektikern’
(Petrus Damiani, Lanfranc von Bec) in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts.
Die erste Phase der mittelalterlichen Wissenschafts- und Bildungsgeschichte
kennzeichnet durchweg eine erkenntnisoptimistische Konzeption, die zugleich dem
menschlichen Wissen eine funktionale Bedeutung für die Erschließung des Sinns der
sacra pagina, der Heilsgeschichte und der Schöpfung zuweist: Auf der Grundlage na-
mentlich des Augustinischen Verständnisses der doctrina Christiana ist klar, daß Wis-
sen von relativer Heilerheblichkeit möglich ist, weil die menschlichen Erkenntnis-
möglichkeiten von vorne herein beschränkt sind und nicht an die definitive scientia
Dei heranreichen. Angesichts der prinzipiellen Vorläufigkeit des niemals selbstzweck-
haften Wissens kommt individuellen Differenzen kaum grundlegende Bedeutung zu.
Etwa ab der Mitte des 11. Jahrhunderts wird jedoch die Transzendenz Gottes immer
stärker betont und die grundsätzlich erkenntnisoptimistische Grundhaltung aufgege-
ben, insofern von der religiösen ‘Bedeutung4 der geschaffenen Welt (teilweise) abge-
sehen wird; dieses religiöse Motiv bildet ein entscheidendes Movens der Verbegriff-
lichung der Rationalität. Ist unter diesen Prämissen doch Wissen i. e. S. zugänglich,
muß dieses als besondere individuelle Begabung verstanden werden. Das enorme
Selbstbewußtsein, mit dem einzelne Intellektuelle, etwa Abaelard und Gilbert Porre-
ta, auftreten, die Theorie und Praxis scharf unterscheiden und in ihrer Wertigkeit
gegeneinander abstufen, provoziert jedoch die Gegenposition beispielsweise Bern-
hards von Clairvaux, der die Heilserheblichkeit der scientia etwa zugunsten des
Gehorsams gegenüber den göttlichen und kirchlichen Geboten prinzipiell bestreitet
und dem theoretischen Wissen die gläubige Praxis antithetisch gegenüberstellt. Die
Grenzen des humanen Wissens und seiner Relevanz werden so eng gezogen, daß die
Behauptung eines besonderen theoretischen Wissens nur als Anmaßung erscheint.
Demgegenüber repräsentiert Hugo von St. Viktor mit seinem umfassenden exege-
tisch-hermeneutisch grundierten Bildungsprogramm die ‘alte’ Bildungs- und Wis-
senschaftsauffassung.