I. Jahresfeier am 30. Mai 2015
Rechenschaftsbericht des Altpräsidenten Paul Kirchhof
Wenn ich Ihnen heute für das Jahr 2014 einen Re-
chenschaftsbericht erstatten darf, beginne ich mit
der Erinnerung an die Maßstäbe, die unsere Aka-
demie leiten. Die Akademie hat den Auftrag, das
Gespräch zwischen Geistes- und Naturwissen-
schaften sowie die Begegnung zwischen jungen
und erfahrenen Wissenschaftlern zu pflegen, dabei
insbesondere Langzeitprojekte zu betreiben, die
wir heute vielleicht besser Nachhaltigkeitsprojek-
te nennen sollten. Wir verstehen die Aufteilung
unserer Klassen in eine Philosophisch-historische
und eine Naturwissenschaftlich-mathematische
nicht als Trennlinie, sondern als Ausgangspunkt
für den gemeinsamen wissenschaftlichen Aus-
tausch. Dieses ist hervorzuheben, weil wir die
Trennkonzeption, wie sie teilweise Max Weber
zugeschrieben wird oder wie sie Gründungskonzept von Princeton war, bewusst
überwinden. Nach der Konzeption von Princeton sichern die Geisteswissen-
schaften die Tradition und beantworten die Wertefragen. Sie streben ihrem in-
neren Sinn nach in die Gegenrichtung der „reinen Wissenschaften“ Mathematik
und Naturwissenschaften, die nichts von Gut und Böse wissen. Diese These will
die Tatsachen von den Werten trennen, empirische und moralische Urteile unter-
scheiden. Doch dieser Auftrag führt beide Wissenschaftsbereiche zusammen und
fordert eine gemeinsame Auseinandersetzung über die Fragen, was der Mensch
kann und was der Mensch darf. Im vergangenen Jahr haben Thomas Holstein
und Bernd Schneidmüller, die Sekretäre unserer Klassen, unsere Vortrags- und
Gesprächsrunden auf diesen Dialog des Begegnens beider Klasse ausgerichtet. Es
ging um Evolution und molekulare Katalysatoren, um Astronomie und Nano-
technologie, um den Ursprung von Zeit und Raum, um die digitale Gesellschaft,
ebenso um die Reformation, um die Oströmische Monarchie, um Politikbera-
tung und den Sinn von Prognosen, um Nietzsche und Karl den Großen, um
unseren Begriff vom menschlichen Glauben.
Wachsende Teilnehmerzahlen und diskussionsbedingt verspätete Mittagessen
belegen die Lebhaftigkeit des Austauschens, die Inspiration durch das wissenschaft-
lich Andere und das Denken in Grenzbereichen der Disziplinen, das institutionell
geförderte Wagnis für neue Methoden, Fragestellungen und Ergebnisse.
Einen eindrucksvollen Blick in einen bisher unbekannten Garten hat uns
Jürgen Debus mit seiner Festrede auf der letztjährigen Jahresfeier über die Strah-
lenheilkunde eröffnet und dabei die multidisziplinären Herausforderungen die-
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Rechenschaftsbericht des Altpräsidenten Paul Kirchhof
Wenn ich Ihnen heute für das Jahr 2014 einen Re-
chenschaftsbericht erstatten darf, beginne ich mit
der Erinnerung an die Maßstäbe, die unsere Aka-
demie leiten. Die Akademie hat den Auftrag, das
Gespräch zwischen Geistes- und Naturwissen-
schaften sowie die Begegnung zwischen jungen
und erfahrenen Wissenschaftlern zu pflegen, dabei
insbesondere Langzeitprojekte zu betreiben, die
wir heute vielleicht besser Nachhaltigkeitsprojek-
te nennen sollten. Wir verstehen die Aufteilung
unserer Klassen in eine Philosophisch-historische
und eine Naturwissenschaftlich-mathematische
nicht als Trennlinie, sondern als Ausgangspunkt
für den gemeinsamen wissenschaftlichen Aus-
tausch. Dieses ist hervorzuheben, weil wir die
Trennkonzeption, wie sie teilweise Max Weber
zugeschrieben wird oder wie sie Gründungskonzept von Princeton war, bewusst
überwinden. Nach der Konzeption von Princeton sichern die Geisteswissen-
schaften die Tradition und beantworten die Wertefragen. Sie streben ihrem in-
neren Sinn nach in die Gegenrichtung der „reinen Wissenschaften“ Mathematik
und Naturwissenschaften, die nichts von Gut und Böse wissen. Diese These will
die Tatsachen von den Werten trennen, empirische und moralische Urteile unter-
scheiden. Doch dieser Auftrag führt beide Wissenschaftsbereiche zusammen und
fordert eine gemeinsame Auseinandersetzung über die Fragen, was der Mensch
kann und was der Mensch darf. Im vergangenen Jahr haben Thomas Holstein
und Bernd Schneidmüller, die Sekretäre unserer Klassen, unsere Vortrags- und
Gesprächsrunden auf diesen Dialog des Begegnens beider Klasse ausgerichtet. Es
ging um Evolution und molekulare Katalysatoren, um Astronomie und Nano-
technologie, um den Ursprung von Zeit und Raum, um die digitale Gesellschaft,
ebenso um die Reformation, um die Oströmische Monarchie, um Politikbera-
tung und den Sinn von Prognosen, um Nietzsche und Karl den Großen, um
unseren Begriff vom menschlichen Glauben.
Wachsende Teilnehmerzahlen und diskussionsbedingt verspätete Mittagessen
belegen die Lebhaftigkeit des Austauschens, die Inspiration durch das wissenschaft-
lich Andere und das Denken in Grenzbereichen der Disziplinen, das institutionell
geförderte Wagnis für neue Methoden, Fragestellungen und Ergebnisse.
Einen eindrucksvollen Blick in einen bisher unbekannten Garten hat uns
Jürgen Debus mit seiner Festrede auf der letztjährigen Jahresfeier über die Strah-
lenheilkunde eröffnet und dabei die multidisziplinären Herausforderungen die-
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