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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2015 — 2016

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A. Das akademische Jahr 2015
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III. Veranstaltungen
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Mitarbeitervortragsreihe „Wir forschen. Für Sie“
DOI Artikel:
Marzolph, Ulrich: Von Sklaven, Mord und Liebe: Die Kunst der Erzähler von 1001 Nacht
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55653#0110
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III. Veranstaltungen

- einer Geschichte von Liebe, Trennung und letztlich«' Vereinigung wie so viele in
1001 Nacht - ist für die folgende Betrachtung nicht von Relevanz.
Aus der Sicht eines traditionellen historischen arabischen Publikums ist be-
reits das Eingangsmotiv des Kaufmannssohnes ein Standardmotiv, das die Ge-
schichte in den Erlcbnishorizont der Zuhörer einbettet. Da der mündliche Vortrag
der Geschichten von 1001 Nacht auf dem Bazar stattfand, waren viele der Zuhörer
Händler. Kaufleute fungieren zu einem solch hohen Anteil als Handlungsträger
in den Geschichten von 1001 Nacht, dass die Sammlung in Anlehnung an den li-
teraturwissenschaftlichen Terminus „Fürstenspiegel“ als „Kaufmannsspiegel“ be-
zeichnet worden ist. Zahlreiche Geschichten von 1001 Nacht beginnen mit dem
Motiv des Kaufmannssohnes. Die Dynamik dieser Geschichten entwickelt sich
oft daraus, dass der Kaufmannssohn nach dem Tod seines Vaters zunächst sein
Erbe mit falschen Freunden verprasst und erst, als er kein Geld mehr besitzt, sein
Schicksal selbst in die Hände nimmt. Der Kaufmannssohn Ghänim bettet sich in
der Vorstellung der Zuhörer mithin in ein weitverbreitetes und mit ihrer konkre-
ten Erlebniswelt verbundenes Erzählspektrum ein.
Die Rahmengeschichte von Ghänim ibn Ajyüb ist im Rahmen von 1001 Nacht
eine außergewöhnliche Liebesgeschichte, da sie nicht nur von Liebe, Trennung
und letztlicher Vereinigung handelt, sondern darüber hinaus eine exemplarische
Abhandlung über angemessenes Sozialverhalten beinhaltet. Eine wichtige Rolle
spielt hierbei die Tatsache, dass die von Ghänim in der Kiste entdeckte junge Frau,
Qüt al-qulüb, eine Sklavin des Kalifen Härün al-Rashid ist. Nachdem Ghänim sie
gerettet hat, erfordert es die Erzähllogik, dass beide sich heftig ineinander verhe-
ben. Aber zunächst gibt sie als loyale Dienerin ihres Herrn seinem Streben nicht
nach, und als er schließlich über ihren Status informiert ist, weigert er sich aus Ehr-
furcht vor dem Kalifen, sie zu berühren. Es ist diese Kombination von intensiver
Liebe auf der einen und Akzeptanz der sozialen Regeln auf der anderen Seite, die
der Liebesgeschichte ein glückliches Ende beschert - selbstverständlich erst nach
einer ganzen Reihe von Verwicklungen und Abenteuern. Wenn man die Rahmen-
geschichte von Ghänim ibn Ajyüb auf diese Art liest, werden die Erzählungen der
Eunuchen zu Kommentaren dazu, was passiert, wenn die sozialen Regeln in Frage
gestellt oder gar gebrochen werden, denn schließlich werden die Sklaven aufgrund
des in ihren Erzählungen geschilderten Fehlverhaltens kastriert.
Damit sind die Erzählungen der Eunuchen für den weiteren Verlauf der
Handlung nicht überflüssig, selbst wenn sie nicht notwendig erscheinen mö-
gen. Zusätzlich zu ihrer Funktion als Kommentar erfüllen sie darüber hinaus
eine weitere erzähltechnische Funktion, indem sie die Handlung verzögern
und Spannung dadurch erzeugen, dass die Zuhörer oder Leser zunächst in der
Schwebe gelassen werden. Die Zuhörer oder Leser sind dabei in derselben Situ-
ation wie Ghänim, der in seinem Versteck gespannt darauf wartet zu entdecken,
was sich in der Kiste befindet.

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