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Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2015 — 2016

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C. Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses
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II. Das WIN-Kolleg
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Sechster Forschungsschwerpunkt „Messen und Verstehen der Welt durch die Wissenschaft“
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11. Die Vermessung der Welt. Religiöse Deutung und empirische Quantifizierung im mittelalterlichen Europa
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https://doi.org/10.11588/diglit.55653#0291
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C. Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses

abgelehnt. Stattdessen sollte der Blick auf das direkt Erfahrbare und seine Deutung
gerichtet werden.
Im Rahmen des WIN-Projekts „Die Vermessung der Welt“ soll untersucht
werden, welche Rolle dem Messen und Zählen als Beschreibungsmethode und
Erklärungsmodell bei der Erfassung der Welt im mittelalterlichen Europa zukam.
Als ein erstes Ergebnis des Quellenstudiums kann formuliert werden, dass das im
Untertitel des Projekts angedeutete Spannungsverhältnis zwischen traditionellen,
religiösen Deutungsmustern und empirischer Vermessung nicht als strikte Oppo-
sition verstanden werden sollte. Auch die Erfassung und Beschreibung der Welt
galt letztlich als dem Lob Gottes förderlich, da sie ein Weg war, dem Menschen die
Vielgestaltigkeit der Schöpfung vor Augen zu führen und ihn aufgrund seiner ei-
genen Begrenztheit zur Demut anzuhalten (Boethius, Consolatio philosophiae 11,7).
Entsprechend galt es, sowohl die in der Bibel offenbarten Angaben als auch die in
der Welt erfahrbaren Dinge zu verstehen und zu deuten. Numerische Angaben
vermied man dabei keineswegs, im Gegenteil: Zahlen spielten auch in der Exegese
eine wichtige Rolle. Man war überzeugt, dass die in der Bibel offenbarten oder in
der Welt erkennbaren Zahlen und Quantifizierungen Bedeutung hatten und dass
ihnen ein verborgener Sinn eingeschrieben war.2 Dessen Offenlegung war Ziel der
Exegese, so dass metaphysische bzw. theologische Grundannahmen eben nicht als
weltanschauliche Prägung galten, sondern als begründete Erkenntnisse.3
Auf dieser Grundlage blieb die kontemplative Weltbctrachtung über Jahrhun-
derte hinweg ein Movens bzw. eine Legitimierung auch für Wissenssammlungen.
Der Dominikaner Vinzenz von Beauvais stellte seiner gewaltigen Enzyklopädie,
dem Speculum maius, um 1250 denn auch die Bemerkung voran, dass der mensch-
liche Geist sich über die Welt erheben könne, um so von oben die Größe der Erde
und die Vielfältigkeit der Lebewesen zu erfassen: Mit dem „Blick des Glaubens“
(intuitu ftdei) könne der Mensch die Größe, Schönheit und Beständigkeit des
Schöpfer erahnen. Die Weiträumigkeit der Welt, so Vinzenz, sei letztlich ein Spie-
gel der Größe Gottes.4
Auf welche Art aber konnte Gottes Schöpfung überhaupt erfasst werden?
Durch innere Einkehr zur Erfahrung der Gegenwart Gottes, wie es die Mystik
anregte? Oder durch Hinwendung zur Welt? Während die Zahlenallegorese schon

2 Heinz Meyer, Die Zahlenallegorese im Mittelalter. Methode und Gebrauch (Münstersche
Mittelalter-Schriften 25), München 1975, S. 9.
3 Vgl. dazu Georg Wieland, Die Ordnung des Kosmos und die Unordnung der Welt, in: Ord-
nungskonfigurationen im hohen Mittelalter, hg. von Bernd Schneidmüller/Stefan Weinfurter
(Vorträge und Forschungen 64), Ostfildern 2006, S. 19-36.
4 Vgl. Anna-Dorothee von den Brincken, Fines terrae. Die Enden der Erde und der vierte Konti-
nent auf mittelalterlichen Weltkarten (Schriften der MGH 36), Hannover 1992, S. 1. Der Text
Vinzenz findet sich bei ders., Geschichtsbetrachtung bei Vincenz von Beauvais. Die Apologia
Actoris zum Speculum Maius, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 34, 1978,
S. 410-499, hier S. 473.

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