Nachruf auf Walter Burkert
renz (1903-1989)15 schlägt er vor, „die sakralisierten Tötungshandlungen uralter
Tradition, die blutigen Opfer, das Schlachten der Tiere bei festlicher Gelegenheit,
als Inszenierung geregelter Aggression zu verstehen, weshalb denn diese Rituale
imstande seien, Gruppensolidarität durch die Schauer des Heiligen zu begründen.
Religiöses Verhalten gerade in seinen scheinbar abstoßenden Aspekten von Opfer
und Blutvergießen ist dann als eine Art der Bindung zu begreifen, die feste und
ernste Gemeinschaft begründet.“16 Burkert steht mit diesem Buch in der Traditi-
on der Cambridge School und Jane Ellen Harrisons „Themis“ (1911) sowie E. R.
Dodds’ „The Greeks and the Irrational“ (1951), einer Forschungsrichtung, die
nach Nietzsche die dunklen, irrationalen Seiten des archaischen und klassischen
Griechenlands auslotet. In dieser Sichtweise auf die Antike weitet sich die Klassi-
sche Philologie zur Anthropologie, wie Burkert im Nachwort zur 2. Auflage von
„Homo necans“ (S. 333) schreibt.
Den in „Homo necans“ entwickelten Ansatz der gruppenbildenden Funktion
von Opferritualen wendet Burkert in einer kleinen, bahnbrechenden Arbeit auf
die Frage nach dem Ursprung der Tragödie an. In „Greek Tragedy and Sacricial
Ritual“17 erklärt er in einer Verbindung von etymologischer und anthropologischer
Deutung das griechische Wort Tpaytpöia nicht, wie gemeinhin üblich, als ,Gesang
der Böcke4, als ,Bocksgesang‘, sondern als ,Gesang, der anlässlich eines Bocksop-
fers4 oder ,Gesang um einen als Preis ausgesetzten Bock4. Aus der ursprünglichen
Opferhandlung, in der die Tragödie ihren rituellen Nucleus hatte, lassen sich -
so Burkert - viele Besonderheiten und gattungskonstituierenden Elemente der
späteren, hochentwickelten literarischen Form des 5. Jahrhunderts erklären. „Die
Transformation auf das Niveau hoher Eiteratur, mit den Formen der Chorlyrik
und der Adaptation des heroischen Mythos, bleibt eine einzigartige Eeistung, die
sich doch auf vorgegebene Elemente gründet: Gebrauch von Masken, Gesang und
Tanz auf der OupeXr], Klage, Flötenmusik, der Name rpaycoiöoi, alles vereint in der
Grundsituation des Opfers: Der Mensch im Angesicht des Todes.“18
Die von Opferhandlungen ausgehende Sicht auf die griechische Religion
weitet sich in zwei weiteren großen Monographien zu einer Gesamtschau. In
„Griechische Religion der archaischen und klassischen Zeit“19 entwickelt Burkert
in souveräner Beherrschung der literarischen wie materiellen Quellen in sieben
15 Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression, Wien 1963. Fasziniert war Bur-
kert auch, wie er im Nachwort von „Homo necans“ (S. 344) betont, von Freuds „Totem und
Tabu“.
16 Homo necans, S. 334.
17 Ursprünglich erschienen in: Greek, Roman and Byzantine Studies 7, 1966, S. 87- 121 (jetzt:
Kleine Schriften VII: Tragica et Historica, Göttingen 2007, S. 1 -32); deutsch in: W. Burkert,
Wilder Ursprung, Berlin 1990, S. 13-39.
18 Zitat nach der deutschen Fassung, S. 26.
19 Stuttgart 1977; 2., überarbeitete und erweiterte Fassung Stuttgart 2011.
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renz (1903-1989)15 schlägt er vor, „die sakralisierten Tötungshandlungen uralter
Tradition, die blutigen Opfer, das Schlachten der Tiere bei festlicher Gelegenheit,
als Inszenierung geregelter Aggression zu verstehen, weshalb denn diese Rituale
imstande seien, Gruppensolidarität durch die Schauer des Heiligen zu begründen.
Religiöses Verhalten gerade in seinen scheinbar abstoßenden Aspekten von Opfer
und Blutvergießen ist dann als eine Art der Bindung zu begreifen, die feste und
ernste Gemeinschaft begründet.“16 Burkert steht mit diesem Buch in der Traditi-
on der Cambridge School und Jane Ellen Harrisons „Themis“ (1911) sowie E. R.
Dodds’ „The Greeks and the Irrational“ (1951), einer Forschungsrichtung, die
nach Nietzsche die dunklen, irrationalen Seiten des archaischen und klassischen
Griechenlands auslotet. In dieser Sichtweise auf die Antike weitet sich die Klassi-
sche Philologie zur Anthropologie, wie Burkert im Nachwort zur 2. Auflage von
„Homo necans“ (S. 333) schreibt.
Den in „Homo necans“ entwickelten Ansatz der gruppenbildenden Funktion
von Opferritualen wendet Burkert in einer kleinen, bahnbrechenden Arbeit auf
die Frage nach dem Ursprung der Tragödie an. In „Greek Tragedy and Sacricial
Ritual“17 erklärt er in einer Verbindung von etymologischer und anthropologischer
Deutung das griechische Wort Tpaytpöia nicht, wie gemeinhin üblich, als ,Gesang
der Böcke4, als ,Bocksgesang‘, sondern als ,Gesang, der anlässlich eines Bocksop-
fers4 oder ,Gesang um einen als Preis ausgesetzten Bock4. Aus der ursprünglichen
Opferhandlung, in der die Tragödie ihren rituellen Nucleus hatte, lassen sich -
so Burkert - viele Besonderheiten und gattungskonstituierenden Elemente der
späteren, hochentwickelten literarischen Form des 5. Jahrhunderts erklären. „Die
Transformation auf das Niveau hoher Eiteratur, mit den Formen der Chorlyrik
und der Adaptation des heroischen Mythos, bleibt eine einzigartige Eeistung, die
sich doch auf vorgegebene Elemente gründet: Gebrauch von Masken, Gesang und
Tanz auf der OupeXr], Klage, Flötenmusik, der Name rpaycoiöoi, alles vereint in der
Grundsituation des Opfers: Der Mensch im Angesicht des Todes.“18
Die von Opferhandlungen ausgehende Sicht auf die griechische Religion
weitet sich in zwei weiteren großen Monographien zu einer Gesamtschau. In
„Griechische Religion der archaischen und klassischen Zeit“19 entwickelt Burkert
in souveräner Beherrschung der literarischen wie materiellen Quellen in sieben
15 Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression, Wien 1963. Fasziniert war Bur-
kert auch, wie er im Nachwort von „Homo necans“ (S. 344) betont, von Freuds „Totem und
Tabu“.
16 Homo necans, S. 334.
17 Ursprünglich erschienen in: Greek, Roman and Byzantine Studies 7, 1966, S. 87- 121 (jetzt:
Kleine Schriften VII: Tragica et Historica, Göttingen 2007, S. 1 -32); deutsch in: W. Burkert,
Wilder Ursprung, Berlin 1990, S. 13-39.
18 Zitat nach der deutschen Fassung, S. 26.
19 Stuttgart 1977; 2., überarbeitete und erweiterte Fassung Stuttgart 2011.
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