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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 21): Schriften zur Universitätsidee — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51221#0204
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Die Idee der Universität [1946]

129

Der Bildungswert230 der Geisteswissenschaft ist die Erfüllung durch die Gehalte der
menschlichen Vergangenheit, die Teilnahme an der Überlieferung, das Wissen um die
Weite der menschlichen Möglichkeiten. Auch wo der Weg der Erkenntnis (der in der
Philologie beschritten wird) vergessen ist, bleibt das Ergebnis als solches bedeutsam.
Die Erfüllung der Seele mit den Schatten der Mythen, Bilder, Werke einer großen Ver-
gangenheit ist als solche schon von Bildungswert. Der Bildungswert der Naturwissen-
schaften liegt in der Übung exakt-1realistischer Auffassung. Sehr viel weniger als bei 36
den Geisteswissenschaften sind die Inhalte als solche von Bildungswert. In der Physik
und Chemie sind die Ergebnisse verhältnismäßig gleichgültig, während der Weg, auf
dem sie gewonnen sind (die Methode), den Bildungswert hat. Wer hier nur Ergebnisse
kennt, hat ein im Grunde totes, geistloses Wissen. Die bloße Aneignung der Ergebnisse
schafft daher hier das Gegenteil von geistiger Bildung. Es entsteht eine Dogmatik der
zur Autorität erhobenen Wissenschaft, die dem wirklichen Kenner fremd ist. Am we-
nigsten Bildungswert hat aber bei den Naturwissenschaften, was bei der Menge im Vor-
dergrund steht, die Dogmatisierung der Ergebnisse zum Weltbild.31 Ein Wissen, des-
sen Begründung ich nicht selbständig einsehen kann, hat hier nicht nur keinen
Bildungswert, sondern wirkt ruinös. Die doch im Prinzip immer falschen Weltbilder
wirken wie früher die Mythen. Ein entseeltes Weltbild tritt an die Stelle der früheren
mythischen Welt; ein reiches, erfülltes, gehaltvolles Ganzes wird ersetzt durch ein un-
endlich armes.231 Aber dieses wird wie früher hingenommen als geglaubte, auf die Au-
torität der Wissenschaft hin gültige Offenbarung. Leere naturwissenschaftliche An-
sichten treten an Stelle lebendigen, anschauenden Verkehrs mit der Natur.
Das Gesagte gilt von den exakten Naturwissenschaften. Sie leisten das Höchste an
wissenschaftlicher Präzision und Sauberkeit, lassen die größte Klarheit über die Vor-
aussetzungen der eigenen Erkenntnisakte entstehen. Sie bestätigen das Wort Kants,
Wissenschaft gebe es nur, soweit Mathematik anwendbar sei.232 Darum ist aber auch
in diesem Felde alles am Begreifen der Erkenntnisschritte, und fast nichts am Hinneh-
men der Resultate gelegen. Die Naturwissenschaften umfassen jedoch ein weiteres
Feld. Schon im Unlebendigen gibt es die unendliche Gestaltenfülle der Minerale. Und
das Leben zeigt uns eine Realität, rätselhafter noch und undurchdringlicher als die
bloße Materie. Kant schrieb, was noch heute gültig ist: »Es ist ganz gewiß, daß wir die
organisierten Wesen und deren innere Möglichkeit nach bloß mechanischen Prinzi-
pien der Natur nicht einmal hinreichend kennen lernen, viel weniger uns erklären
können, und zwar so gewiß, daß man dreist sagen kann, es ist für Menschen ungereimt,
auch nur einen solchen Anschlag zu fassen, oder zu hoffen, daß noch etwa dereinst
ein | Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Na- 37
turgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde.«233 Heute ha-
ben die Wissenschaften vom Leben einen außerordentlichen Aufschwung genom-
men. Und hier hat der bloße Inhalt als solcher schon eher einen Bildungswert. Die
unendlichen Gestalten des Lebens eröffnen eine Welt, die den vertrauten Umgang mit
 
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