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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 21): Schriften zur Universitätsidee — Basel: Schwabe Verlag, 2016

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51221#0320
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Das Doppelgesicht der Universitätsreform

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uralte, wesentliche Wahrheit darin nicht vorkommt, wirkt erstaunlicherweise die so
erleuchtende Wissenschaft, wenn ihr Sinn im Ganzen mißverstanden wird, zugleich
verdunkelnd. Dann wird ihr zugemutet, was sie nicht leisten kann; sie selber wird in
dem alten Wahrheitssinn genommen und dann Wissenschaftsaberglaube.201
Die frühere, umgreifende, erfüllende Wahrheit braucht jedoch nicht preisgegeben
zu werden. Sie kann nun auf dem Hintergrund wissenschaftlichen Erkennens selber
vielmehr zu größerer Klarheit gelangen, als sie je besaß. Durch die zu ihr gehörenden
Methoden des Denkens erweist sie sich als das, was sie immer war, als lebengründend,
lebenführend, sittlich und politisch formend und sich bewährend. Aber in ihren ob-
jektiven Aussagen wird sie nicht wie Wissenschaften allgemeingültig für alle. Eine
neue Grundlage allen Philosophierens entsteht, die viele Philosophien möglich macht
und die es verwehrt, daß eine einzige wahre Philosophie objektiv fortschreite und sich
dar stelle.
| 2. In der Begründung der neuen Wissenschaften und der neuen Weise des Philosophie-
rens liegt etwas beide Verbindendes. Das Erkennen wird verstanden nicht nur als ein Se-
hen (theoria), sondern als ein Hervorbringen. Eine Aktivität wird sich ihrer bewußt,
in der nicht die Produktivität von Subjekten und nicht ein bestehendes Objektives
maßgebend ist, sondern das Umgreifende,218 das in der Subjekt-Objekt-Spaltung offen-
bar wird dadurch, daß im Hervorbringen das Entgegenkommende gefunden wird, im
Entgegenkommenden das Hervorbringen sich bewährt.
3. Für die moderne Philosophie ist der Schritt Kants (nicht der des deutschen phi-
losophischen Idealismus) begründend geworden: nicht etwa durch die besonderen
Lehren, die im Neukantianismus herausgegriffen und fälschlich wieder als eine objek-
tive Wissenschaft der Philosophie genommen wurden, sondern durch die in keiner
Lehre endgültig faßbare Befreiung des Erkennens aus allen Fesseln der >Ontologie<, als Er-
öffnung des unendlichen Raumes jeder möglichen Weise des Erkennens, als Bewegung
der Vernunft, die mit jedem ihrer Schritte den Verstand benutzt, aber ihn übergreift.
Mit den drei, durch ihren Sinn aneinander gebundenen Schritten (der neuen Wis-
senschaft, der neuen Aktivität, der Befreiung von aller Ontologie zum Eintritt in einen
offenen, unendlichen Raum) ist nun aber keine neue dogmatische Festlegung, kein
neues vereinendes System verbunden. Eine neue Lehre vom Sein (eine verwandelte On-
tologie) ist in Wahrheit unmöglich geworden, ein Entwurf der Weisen des Umgreifen-
den, worin wir uns finden (eine Periechontologie)337 muß selber in der Schwebe bleiben.
Das Neue kann ebensogut aussehen als sich ständig steigende Auflösung wie als
Hervorbrechen der Wahrheit im Ganzen. Ein Zeichen unserer geistigen Situation ist:
Es gibt kein gültiges Weltbild mehr. Damit sind wir in das erste Zeitalter der Befreiung von
Weltbildern überhaupt getreten.338 Es ist gefährlich für unsere Existenz, in solcher Bo-
denlosigkeit leben zu sollen. Aber es ist doch einzig großartig und eine unerhörte
Chance für den Menschen, der nun auf andere Weise als im wohnlich bergenden Ge-
häuse36 eines Weltganzen seinen Boden gewinnen muß.

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