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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2001 — 2002

DOI chapter:
I. Das Geschäftsjahr 2001
DOI chapter:
Gesamtsitzung am 16. Juni 2001
DOI article:
Cremer, Thomas: Vom DNA-Faden zur Zellkernarchitektur: Wie funktioniert unser Genom?
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.66350#0075
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Sitzungen

den, was dieser genetische Text im Hinblick auf den einzigartigen Phänotyp eines
jeden Individuums tatsächlich festlegt und wichtiger noch, was er nicht festlegt. Diese
fundamentale Frage kann auf der Ebene einer Basensequenzanalyse des DNA-Fadens
allein nicht beantwortet werden. Normale und pathologische Entwicklung geschieht -
von der Zygote bis zum Tod eines Organismus - als Interaktionsgeschichte von Genen
und Umwelt.
Jede Zelle benötigt, wenn wir die zellspezifischen Genaktivitäten mit einer Orches-
termusik vergleichen, ihre spezifische „Orchestrierung“. Transkriptionell aktive
Haushaltsgene benötigt jede Zelle. Gewebsspezifischen Gene sind dagegen nur in
bestimmten Zelltypen und manchmal nur während einer sehr begrenzten Entwick-
lungsphase aktiv. Für das „Genorchester“, das beispielsweise in einer Leberparen-
chymzelle „aufspielt“, werden andere Mitglieder benötigt als in einer Nervenzelle.
Mitspieler, die in einer bestimmten Situation den Ton angeben, z.B. zellzyklusregulie-
rende Gene in proliferierenden Zellen, dürfen in einer anderen Situation, z.B. in einer
terminal differenzierten Zelle, keinesfalls aktiv sein. Bis heute verstehen wir nur sehr
wenig davon, wie es gelingt, in den Zellen unseres Körpers jeweils die richtigen Gene
an- bzw. abzuschalten. Ebensowenig verstehen wir, wie die Aktivität tausender von
Genen in einer Zelle aufeinander abgestimmt werden kann. Dazu müssen wir versu-
chen, das epigenetische Regelwerk verstehen zu lernen, das die vielfältig verschiedenen
Orchestrierungen der Genmusik in den verschiedenen Zellen eines Organismus erst
ermöglicht.
Was sind epigenetische Mechanismen? Kurzgesagt, dazu gehören alle Mechanis-
men, die erforderlich sind, um einen bestimmten Differenzierungszustand einer Zelle
zu bewirken und - gegebenenfalls über zahlreiche Zellzyklen hinweg - aufrecht zu
erhalten. Um diese epigenetischen Mechanismen zu verstehen, genügt die Kenntnis
der DNA Sequenz nicht. Vom genetischen Text, wie er in einer Zygote vorgegeben ist,
hängt ab, ob aus dieser Zygote eine Maus, eine Katze oder ein Mensch entstehen wird.
Die Varianten dieses Textes sind zwar wichtig für die vielfältigen phänotypischen
Besonderheiten eines Individuums, aber sie allein bestimmen die Entwicklung nicht
eindeutig. Was vom genetischen Text in einer bestimmten Zelle eines vielzelligen
Organismus zu einem bestimmten Zeitpunkt gelesen wird, kann nicht einfach durch
eine vollständige Sequenzierung des Genoms und durch eine Erfassung aller Gene her-
ausgefunden werden.
Modifikationen der DNA durch Methylgruppen, Modifikationen der Histone
durch Methylgruppen und Acetylgruppen bewirken, dass Chromatin unterschiedlich
verpackt, kondensiert oder aufgelockert sein kann. Ob Gene aktiv oder stumm sind,
ob die Transkriptionsmaschinerie RNA von bestimmten Genen ablesen kann oder
nicht, scheint von der Art und Weise ihrer jeweiligen Chromatinverpackung abzuhän-
gen. Der Schwerpunkt der aktuellen Chromatmforschung hegt auf der Analyse der
Chromatinverpackung der Gene im Zellkern. Die Analyse der epigenetischen Mecha-
nismen, die bei dieser Verpackung wirksam sind, genügt aber nach unserer Auffassung
nicht, um die unterschiedliche Orchestrierung der Genaktivitäten in verschiedenen
Zelltypen zu verstehen. Dazu ist es erforderlich über die Ebene der Chromatinstruktur
hinauszugehen und die dynamische Architektur des Zellkerns insgesamt kennenzuler-

nen.
 
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