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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2001 — 2002

DOI chapter:
I. Das Geschäftsjahr 2001
DOI chapter:
Gesamtsitzung am 14. Juli 2001
DOI article:
Kirchhof, Paul: Antrittsrede vom 14. Juli 2001
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.66350#0092
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14. Juli 2001

103

Entscheidungen zum einkommenssteuerlichen Existenzminimum, zur familienge-
rechten, und damit zukunftsoffenen Gestaltung der Einkommensteuer, zur Vermö-
gensteuer, zur Erbschaftssteuer, zum Absatzfondgesetz und zum Kohlepfennig.
Das Problem der Gestaltungs- und Durchsetzungskraft von Recht bewegt den Ver-
fassungsrichter fast täglich. Was kann ein nationales Verfassungsrecht und seine
Gerichtsbarkeit innerhalb der Völkerrechtsgemeinschaft bewirken, wenn der eine Ver-
tragspartner an anderes Verfassungsrecht gebunden ist und anderen Gerichtsinstitu-
tionen untersteht? Wie verhält sich die deutsche Verfassungsgerichtsbarkeit zum
Europäischen Gerichtshof, dessen Aufgabenbereich 15 Mitgliedstaaten umfasst, der
aber den Maßstab des Verfassungsrechts nicht anwenden darf und damit die Verfas-
sungsmäßigkeit des in Deutschland geltenden Europarechts nicht gewährleisten kann?
Was kann ein Verfassungsgerichtsurteil in einer Parlament, Bundesregierung und
Nation tief spaltenden Frage nach dem Einsatz der Bundeswehr auch außerhalb der
Verteidigung des eigenen und des Natogebietes bewirken?
Die Grenzen des Rechts sind uns insbesondere bewusst geworden, als wir das deut-
sche Verfassungsrecht auf das wiedervereinigte Deutschland anzuwenden hatten.
Wenn ein Ehegatte zwangsweise von seiner Ehefrau geschieden und dann nach West-
deutschland abgeschoben worden ist, er hier später erneut heiratet und dann nach dem
Fall der Mauer die erste Frau die Feststellung der Nichtigkeit der Zwangscheidung
begehrt, tut sich das Bundesverfassungsgericht mit der Feststellung der Menschen-
rechtswidrigkeit der Zwangscheidung leicht, steht aber in der daraus sich ergebenden
Rechtsfolge vor einem Dilemma: Ist die Scheidung nichtig, lebt der Mann nunmehr in
Bigamie und der Staatsanwalt müsste tätig werden.
Wie ist ein Spion zu bestrafen, der in der Bundesrepublik Deutschland für die DDR
erfolgreich spioniert hat und deshalb hier mit Strafe bedroht wird, dem aber in seinem
damaligen Heimatstaat - der DDR - Honorar und Ehrung für just diese Tätigkeit ver-
sprochen worden ist, und der nunmehr erlebt, das ausspionierender und ausspionier-
ter Staat personenidentisch geworden sind? Wie ist die 5%-Klausel unseres Wahl-
rechts bei der ersten gesamtdeutschen Wahl zu handhaben, wenn die Parteien der ehe-
maligen DDR wegen der kurzfristig angesetzten Wahl rechtlich und tatsächlich nicht
die Möglichkeit haben, in Westdeutschland Kandidaten aufzustellen, sie ihr Wähler-
potential also ausschließlich in ihren alten Stammländern suchen müssen und die 5%-
Klausel für sie deshalb gesamtdeutsch als 23%-Klausel wirkt?
Hier lässt der Verfassungstext den Richter in seiner Entscheidung über gesetzlich
nicht vorausgesehene Fragen fast allein. Er muss sich umso mehr bemühen, sein Urteil
aus der im Verfassungstext begriffenen Rechtskultur - ihren Elementarbegriffen und
Staatsgrundlagenbestimmungen - zu begründen, um nicht in die Haltlosigkeit rechts-
ungebundenen Sprechens im Namen des Rechts abzugleiten.
2. Der Auftrag des Rechtswissenschaftlers enthält die Verpflichtung, Rechtser-
kenntnisse so zu Ende zu denken, dass sie bis zur Anwendungsreife gedeihen und in
dem System unserer Rechtsordnung zur Wirkung gebracht werden können. Wie der
Mediziner Grundlagenforscher, zugleich aber auch heilender Arzt sein kann, so fragt
der Rechtswissenschaftler nicht nur nach der Erkenntnis des besseren Rechts, sondern
sucht diese Erkenntnis in unserem Verfassungsstaat, im Europäischen Staatenverbund
und ein Stück weit auch in der Völkerrechtsgemeinschaft zu verwirklichen.
Deshalb habe ich zusammen mit Herrn Kollegen Isensee (Bonn) 1986 den Versuch
unternommen, durch Herausgabe eines inzwischen auf 10 Bände angewachsenen
 
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