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JAHRESFEIER
deutschen Bevölkerung, 3% zusätzlich an Panikzuständen. Soziale Phobie hat ein
hohes Chronifizierungsrisiko und mit 30-40% Risiken von Depression, mit
25-40 % auch von Sucht. Mit sozialer Phobie verbinden sich häufig hohe Ansprüche,
perfektiomstische Züge und hohe Empfindlichkeit gegen Kränkung und Kritik.
Ursprung und Verlauf einer sozialen Phobie lassen sich vereinfacht skizzieren:
Nach frühen Erfahrungen, etwa ausgelacht zu werden, kann es zu Erwartungs-
ängsten und zu ihrer Generalisierung auf viele soziale Situationen - z.B. Empfänge,
Diners, Theaterbesuche — kommen.
Die Erwartungsängste gehen mit Erregung und körperlichen Symptomen wie
Pulsanstieg, Schwitzen usw. bis zu Panikzuständen einher.
Der Reaktion auf soziale Ängste stehen drei Wege offen:
1. Sich der angstbelasteten Situation aktiv auszusetzen ermöglicht korrigierende Erfah-
rungen. Die Exposition wird in der Behandlung der sozialen Phobie systematisch
eingesetzt und eröffnet auch im normalen Leben den Abbau irrealer Ängste.
Ludwig hatte offenbar durch seine Kronprinzenrolle und im Elternhaus wenig
Chancen dazu. Seine mit religiösen Schuldgefühlen und gesellschaftlicher Peinlich-
keit schwer belastete Homosexualität hat zweifellos, vom Zeitpunkt ihrer Ausübung
am Hofe an, die Ängste vor Ablehnung und Verurteilung in der Gesellschaft erheb-
lich gesteigert. Zugleich hat sie einen intimen, emotional und erotisch stark aufge-
ladenen Umgang mit männlichen Partnern von „niedrigem Stande“ ermöglicht.
Das spiegelt sich eindrucksvoll in vielen Briefen und in seinem Tagebuch.
2. Der zweite — von Ludwig schon in der Jugend begangene — Weg, die Vermeidung
von Angstsituationen, schafft Erleichterung, perpetuiert aber die im Gedächtnis
bewahrten Ängste und erweitert die Vermeidungsfelder.
3. Der dritte Weg der Betäubung mit Alkohol oder Schlafmitteln leistet ebenfalls
einen schlechten Dienst.
Beide dysfunktionalen Bewältigungsstrategien, die wir bei Ludwig antreffen, sind
mit einem hohen Depressions- und Suchtrisiko verbunden.
Die früh aus Schüchternheit heraus entstehende und mit dem Eintritt ins
Erwachsenenalter erheblich verschlimmerte soziale Phobie, die mit zunehmenden
Fluchtbedürfnissen aus der gesellschaftlichen Welt einherging, hat sich wahrschein-
lich mit dem Verbergen seiner homoerotischen Handlungen und mit der zur Sucht
angewachsenen Schaffung der privaten, herrscherlichen Welt prachtvoller Schlösser
synergistisch verbunden. Ludwig hat dies mehrfach zum Ausdruck gebracht, etwa
wenn er vom „geistigen Herausheben aus der oft kaum zu ertragenden Gegenwart“ sprach.
Beide Erkrankungen geben jedenfalls zusammen mit einigen abnormen Per-
sönlichkeitszügen (hohe Empfindsamkeit, Narzißmus, homoerotische Orientierung
und verminderte Impulskontrolle) nach Verlauf und Folgen eine plausible Erklärung
wesentlicher Aspekte von Ludwigs Lebens- und Krankheitsgeschichte.
Wenn damit die Begründung der dauerhaften Regierungsunfähigkeit durch
„primäre Verrücktheit“ und Geistesschwäche — entfallen ist, bleibt die Frage, ob sie
durch den tatsächlichen seelischen Zustand des Königs und dessen - ein Jahr über-
dauernden — Charakter begründbar war. Das ist mangels eines umfassenden Unter-
suchungsbefundes nicht verläßlich beurteilbar.
JAHRESFEIER
deutschen Bevölkerung, 3% zusätzlich an Panikzuständen. Soziale Phobie hat ein
hohes Chronifizierungsrisiko und mit 30-40% Risiken von Depression, mit
25-40 % auch von Sucht. Mit sozialer Phobie verbinden sich häufig hohe Ansprüche,
perfektiomstische Züge und hohe Empfindlichkeit gegen Kränkung und Kritik.
Ursprung und Verlauf einer sozialen Phobie lassen sich vereinfacht skizzieren:
Nach frühen Erfahrungen, etwa ausgelacht zu werden, kann es zu Erwartungs-
ängsten und zu ihrer Generalisierung auf viele soziale Situationen - z.B. Empfänge,
Diners, Theaterbesuche — kommen.
Die Erwartungsängste gehen mit Erregung und körperlichen Symptomen wie
Pulsanstieg, Schwitzen usw. bis zu Panikzuständen einher.
Der Reaktion auf soziale Ängste stehen drei Wege offen:
1. Sich der angstbelasteten Situation aktiv auszusetzen ermöglicht korrigierende Erfah-
rungen. Die Exposition wird in der Behandlung der sozialen Phobie systematisch
eingesetzt und eröffnet auch im normalen Leben den Abbau irrealer Ängste.
Ludwig hatte offenbar durch seine Kronprinzenrolle und im Elternhaus wenig
Chancen dazu. Seine mit religiösen Schuldgefühlen und gesellschaftlicher Peinlich-
keit schwer belastete Homosexualität hat zweifellos, vom Zeitpunkt ihrer Ausübung
am Hofe an, die Ängste vor Ablehnung und Verurteilung in der Gesellschaft erheb-
lich gesteigert. Zugleich hat sie einen intimen, emotional und erotisch stark aufge-
ladenen Umgang mit männlichen Partnern von „niedrigem Stande“ ermöglicht.
Das spiegelt sich eindrucksvoll in vielen Briefen und in seinem Tagebuch.
2. Der zweite — von Ludwig schon in der Jugend begangene — Weg, die Vermeidung
von Angstsituationen, schafft Erleichterung, perpetuiert aber die im Gedächtnis
bewahrten Ängste und erweitert die Vermeidungsfelder.
3. Der dritte Weg der Betäubung mit Alkohol oder Schlafmitteln leistet ebenfalls
einen schlechten Dienst.
Beide dysfunktionalen Bewältigungsstrategien, die wir bei Ludwig antreffen, sind
mit einem hohen Depressions- und Suchtrisiko verbunden.
Die früh aus Schüchternheit heraus entstehende und mit dem Eintritt ins
Erwachsenenalter erheblich verschlimmerte soziale Phobie, die mit zunehmenden
Fluchtbedürfnissen aus der gesellschaftlichen Welt einherging, hat sich wahrschein-
lich mit dem Verbergen seiner homoerotischen Handlungen und mit der zur Sucht
angewachsenen Schaffung der privaten, herrscherlichen Welt prachtvoller Schlösser
synergistisch verbunden. Ludwig hat dies mehrfach zum Ausdruck gebracht, etwa
wenn er vom „geistigen Herausheben aus der oft kaum zu ertragenden Gegenwart“ sprach.
Beide Erkrankungen geben jedenfalls zusammen mit einigen abnormen Per-
sönlichkeitszügen (hohe Empfindsamkeit, Narzißmus, homoerotische Orientierung
und verminderte Impulskontrolle) nach Verlauf und Folgen eine plausible Erklärung
wesentlicher Aspekte von Ludwigs Lebens- und Krankheitsgeschichte.
Wenn damit die Begründung der dauerhaften Regierungsunfähigkeit durch
„primäre Verrücktheit“ und Geistesschwäche — entfallen ist, bleibt die Frage, ob sie
durch den tatsächlichen seelischen Zustand des Königs und dessen - ein Jahr über-
dauernden — Charakter begründbar war. Das ist mangels eines umfassenden Unter-
suchungsbefundes nicht verläßlich beurteilbar.