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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2004 — 2004

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I. Das Geschäftsjahr 2004
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Antrittsreden
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Knapp, Fritz Peter: Antrittsrede vom 31. Januar 2004
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https://doi.org/10.11588/diglit.66960#0104
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ANTRITTSREDEN

beschäftigt. Jetzt begann mich die mittellateinische zu faszinieren. Ich wollte aus den
eingefahrenen Geleisen der Nationalphilologien ausbrechen und eine große kompa-
ratistische Arbeit schreiben, verkannte dabei aber die Forschungssituation vor allem
in der mittellateinischen Philologie, die damals in Wien nur ganz am Rande gelehrt
wurde. Ein längerer Forschungsaufenthalt im Ausland wäre an sich unbedingt nötig
gewesen. Ich versuchte es jedoch auf eigene Faust. Die unter diesen Umständen
zustande gekommene Habilitationsschrift aus dem Bereich der vergleichenden
mediävistischen Poetik und Stilistik brachte mir zwar eine breite Venia legendi bei
der Habilitation im Jahre 1974 ein, fand jedoch nach der Veröffentlichung 1975 ein
geteiltes Echo in der Fachwelt, so daß ich mich bis heute nicht zur Fertigstellung
von Band II entschließen konnte, der den mittellateinischen Teil der Studie um den
französischen und deutschen erst ergänzen sollte. Statt dessen wandte ich mich ande-
ren Themen der mediävistischen Komparatistik zu. Auch in der Lehre durfte ich
diese natürlich jetzt vertreten, stieß hier aber bald an Grenzen, die durch die tradi-
tionellen Studienfächer gesetzt waren. Und sie gelten im wesentlichen bis heute im
ganzen deutschen Sprachraum und darüber hinaus. Europa ist dabei, auf dem Weg
zur Einheit sich seiner gemeinsamen mittelalterlichen lateinisch-romanischen Wur-
zeln zu entledigen, ohne die jedoch jene Einheit der entscheidenden tieferen geisti-
gen Verankerung auf Dauer entraten muß.
In der Praxis der Berufskarriere erwies sich die Wanderung zwischen den mit-
telalterlichen Welten der Latimtas, Romania und Germania auch eher als Hemmnis.
Natürlich hätte ich mich mit der Hausberufung auf ein Extraordinariat 1976 in
Wien zufrieden geben können. Doch ich ging lieber 1982 an die junge Universität
Passau, 1992 dann nach Kiel und 1996 schließlich nach Heidelberg, kam also sozu-
sagen rund um den Orbis Germaniens herum, aber in der Lehre aus den genannten
Gründen auch fachlich darüber wenig hinaus.
In der Forschung versuchte ich, den begonnen Weg weiterzugehen und dabei
den nach meiner Ansicht untrennbaren Zusammenhang zwischen Sprache und Lite-
ratur, Form und Inhalt, Philologie und Historie nie preiszugeben. Zuerst beschrieb
ich die Entwicklung des Selbstmordmotivs in der erzählenden Dichtung des Hoch-
mittelalters. Sie konnte Aufschluß geben über das Eindringen antiken paganen
Gedankengutes über literarische Kanäle in die vom Horror vor dieser unvergebba-
ren Sünde geprägten mittelalterliche Geisteswelt. Während die Moraltheologie bis
ins 20. Jahrhundert strikt an dem Verbot des Selbstmordes festhält, schafft sich die
Dichtung im Sujet des Liebestodes einen poetischen Freiraum, in den die Renais-
sance weit vor dem 14. Jahrhundert Einzug hält - ein glänzender Beweis für die
immer wieder bestrittene Vorreiterrolle des poetischen Diskurses innerhalb der
Mentalitätsgeschichte.
Weitere komparatistische Studien widmeten sich unter anderem dem Tier-
epos und dem französisch geprägten Ritter- und Liebesideal des europäischen
Hochmittelalters. Der Ausflug in den geistig führenden Westen glich damals aller-
dings schon eher einem Erholungsspaziergang, hatte ich doch aus der österreichi-
schen Heimat eine schwere Last mitgenommen, nämlich die Beteiligung an der
Abfassung einer regionalen Literaturgeschichte, Folge eines voreilig gegebenen Ver-
 
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