Fritz Peter Knapp
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sprechens. Die theoretischen Überlegungen und Diskussionen nut österreichischen
und deutschen Germanisten ließen diese Aufgabe für einen Mediävisten zunehmend
als unlösbar erscheinen. Nachgerade sieht es allerdings so aus, als ob die schließlich
gefundene, notgedrungen kompromißhafte Rahmendefinition und die praktische
Befolgung der Richtlinien der Kritik in Fachkreisen doch standhalten könnten.
Diese Definition geht nicht, wie in der Literaturgeschichte fast durchwegs üblich,
von einer Literatursprache aus, sondern von einem politisch bzw. kirchenpolitisch
abgegrenzten historischen Raum, ist also keine glossozentrische, sondern eine
chorozentrische Definition. So bleibt zwar bei der Beschränkung auf die Länder
Österreich, Steiermark, Kärnten, Salzburg und Tirol der überwiegende Teil des deut-
schen Sprachraums weitgehend ausgeblendet, dafür können aber die lateinische und
die deutsche Literatur desselben engeren Raumes gleichberechtigt dargestellt wer-
den, wie es der kulturellen Realität des Mittelalters entspricht.
Ich hatte zwei Bände geplant, mußte dann aber die letzten achzig Jahre vor
1439 einem eigenen Band vorbehalten, da die Stoffmasse immer erdrückender
wurde, insbesondere infolge des erstmaligen Versuchs, die gewaltige lateinische Uni-
versitätsliteratur in die Darstellung einzubeziehen. Aber gerade im Betreten solchen
und ähnlichen Neulandes sollte ja der Innovationsschub des Unternehmens beste-
hen, das ansonsten in vieler Hinsicht ohnehin nichts als eine ganz konventionelle
Literaturgeschichte zu sein beansprucht. Nach ca. zwanzig Jahren Arbeitszeit habe
ich das Werk nun endlich abgeschlossen. Die geplanten Folgebände von anderer
Hand stehen freilich noch aus.
Neben der Literaturgeschichte gab es da allerdings noch ein weiteres Wiener
Erbe, das ich endlich in Kiel und Heidelberg abarbeiten konnte, eine kritische Text-
edition eines mittelhochdeutschen Versromans. Vor der drückenden Kärrnerarbeit
der beiden Großprojekte bin ich immer wieder zeitweise in kleinere Studien geflo-
hen, die häufig, aber bei weitem nicht immer irgendwie mit dem Stoff der Lite-
raturgeschichte zu tun hatten. Direkt aus dieser geflossen ist etwa meine Beschäf-
tigung mit dem jüdisch-christlichen Kulturaustausch. Doch kann dergleichen na-
türlich auf Dauer nicht im Interessenmittelpunkt eines Literaturwissenschaftlers
stehen. Und als solcher fühle und bekenne ich mich ausdrücklich. Das Aufgehen der
Literaturwissenschaft in einer allgemeinen Kulturwissenschaft scheint mir — trotz
aller berechtigten Bewahrung des großen Erbes von Jacob Grimm — em Irrweg.
Daher mein Versuch, in immer neuen Anläufen in Auseinandersetzung mit der
Forschung, insbesondere von Walter Haug und Peter von Moos, die literatur-theo-
retischen Grundlagen mittelalterlichen Erzählens aufzudecken. Nach meiner inzwi-
schen gewonnenen Überzeugung sind sie von den neuzeitlichen grundverschieden,
nicht in erster Linie, weil die aristotelische Poetik ihre entscheidende Wirkung erst
wieder im 16. Jahrhundert entfaltet, sondern weil jene Grundlagen im Mittelalter
unter einem fundamentalen theologischen Vorbehalt stehen: Menschliche Erfindung
kann im Gegensatz zur göttlichen Schöpfung nur Nichtseiendes erzeugen und sich
daher nur durch offensichtlichen Bezug auf das dahinter stehende Seiende, also Fak-
ten der Natur oder Geschichte, legitimieren. Nur ganz wenige mittelalterliche
Erzähler riskieren es, den theoretisch ungeschützten Weg der realitätsindifferenten
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sprechens. Die theoretischen Überlegungen und Diskussionen nut österreichischen
und deutschen Germanisten ließen diese Aufgabe für einen Mediävisten zunehmend
als unlösbar erscheinen. Nachgerade sieht es allerdings so aus, als ob die schließlich
gefundene, notgedrungen kompromißhafte Rahmendefinition und die praktische
Befolgung der Richtlinien der Kritik in Fachkreisen doch standhalten könnten.
Diese Definition geht nicht, wie in der Literaturgeschichte fast durchwegs üblich,
von einer Literatursprache aus, sondern von einem politisch bzw. kirchenpolitisch
abgegrenzten historischen Raum, ist also keine glossozentrische, sondern eine
chorozentrische Definition. So bleibt zwar bei der Beschränkung auf die Länder
Österreich, Steiermark, Kärnten, Salzburg und Tirol der überwiegende Teil des deut-
schen Sprachraums weitgehend ausgeblendet, dafür können aber die lateinische und
die deutsche Literatur desselben engeren Raumes gleichberechtigt dargestellt wer-
den, wie es der kulturellen Realität des Mittelalters entspricht.
Ich hatte zwei Bände geplant, mußte dann aber die letzten achzig Jahre vor
1439 einem eigenen Band vorbehalten, da die Stoffmasse immer erdrückender
wurde, insbesondere infolge des erstmaligen Versuchs, die gewaltige lateinische Uni-
versitätsliteratur in die Darstellung einzubeziehen. Aber gerade im Betreten solchen
und ähnlichen Neulandes sollte ja der Innovationsschub des Unternehmens beste-
hen, das ansonsten in vieler Hinsicht ohnehin nichts als eine ganz konventionelle
Literaturgeschichte zu sein beansprucht. Nach ca. zwanzig Jahren Arbeitszeit habe
ich das Werk nun endlich abgeschlossen. Die geplanten Folgebände von anderer
Hand stehen freilich noch aus.
Neben der Literaturgeschichte gab es da allerdings noch ein weiteres Wiener
Erbe, das ich endlich in Kiel und Heidelberg abarbeiten konnte, eine kritische Text-
edition eines mittelhochdeutschen Versromans. Vor der drückenden Kärrnerarbeit
der beiden Großprojekte bin ich immer wieder zeitweise in kleinere Studien geflo-
hen, die häufig, aber bei weitem nicht immer irgendwie mit dem Stoff der Lite-
raturgeschichte zu tun hatten. Direkt aus dieser geflossen ist etwa meine Beschäf-
tigung mit dem jüdisch-christlichen Kulturaustausch. Doch kann dergleichen na-
türlich auf Dauer nicht im Interessenmittelpunkt eines Literaturwissenschaftlers
stehen. Und als solcher fühle und bekenne ich mich ausdrücklich. Das Aufgehen der
Literaturwissenschaft in einer allgemeinen Kulturwissenschaft scheint mir — trotz
aller berechtigten Bewahrung des großen Erbes von Jacob Grimm — em Irrweg.
Daher mein Versuch, in immer neuen Anläufen in Auseinandersetzung mit der
Forschung, insbesondere von Walter Haug und Peter von Moos, die literatur-theo-
retischen Grundlagen mittelalterlichen Erzählens aufzudecken. Nach meiner inzwi-
schen gewonnenen Überzeugung sind sie von den neuzeitlichen grundverschieden,
nicht in erster Linie, weil die aristotelische Poetik ihre entscheidende Wirkung erst
wieder im 16. Jahrhundert entfaltet, sondern weil jene Grundlagen im Mittelalter
unter einem fundamentalen theologischen Vorbehalt stehen: Menschliche Erfindung
kann im Gegensatz zur göttlichen Schöpfung nur Nichtseiendes erzeugen und sich
daher nur durch offensichtlichen Bezug auf das dahinter stehende Seiende, also Fak-
ten der Natur oder Geschichte, legitimieren. Nur ganz wenige mittelalterliche
Erzähler riskieren es, den theoretisch ungeschützten Weg der realitätsindifferenten