120 | ANTRITTSREDEN
Mittelalter, sondern auch für die Neuzeit. Das war ungemein lehrreich für mich,
denn auf diese Weise konnte der Blick dafür geschärft werden, welche Impulse der
gesellschaftlichen und politischen Ordnung aus dem Mittelalter stärker in der Neu-
zeit weiterwirkten als andere. Daraus sind Arbeiten entstanden, die der longue duree
im Bereich der Verfassungsgeschichte gewidmet sind. Em zweiter Gewinn der Eich-
stätter Zeit lag für mich in der Vertiefung der vergleichenden landesgeschichtlichen
Methode. Um Ordnungskonfigurationen in bestimmten Gesellschaften bestimmen
zu können, muß man die gelebten Ordnungen gewissermaßen an der Basis kennen
und vergleichen. Der dritte Vorteil, den mir Eichstätt brachte, ergab sich aus der
engen Zusammenarbeit mit der Baugeschichte und der Stadt-Archäologie. Das
bedeutete für mich so etwas wie angewandte Mittelalterforschung. Die Verknüpfung
dieser Disziplinen erlaubt es vor allem, den „linguistic turn“, der leicht als ‘Toten-
gräber’ der historischen Methode wirken könnte, zu überwinden.
Meine nächste Station war die Universität Mainz, wo ich von 1987 bis 1994
die Professur für Mittelalter und Historische Hilfswissenschaften innehatte. Diese
Phase war wissenschaftlich vor allem einer Epoche gewidmet: der Zeit der salischen
Herrscherdynastie im 11. Jahrhundert. Im Zusammenhang mit der Salierausstellung
in Speyer wagte ich mich damals zusammen mit beinahe 50 Kolleginnen und Kol-
legen an eine völlige Neubearbeitung und Neubewertung dieses Zeitalters. Das
damals erarbeitete Bild einer epochalen Umbruch- und Schwellenzelt, die in ihrer
Tragweite für die europäische Geschichte vielleicht umwälzender war als die Fran-
zösische Revolution, fand in der Forschung durchwegs Bestätigung. Diese Arbeiten
haben vor allem gezeigt, daß in einer Gesellschaft verschiedene Ordnungskonfigura-
tionen nebeneinander wirksam waren und über längere Zeit miteinander konkur-
rieren konnten. Im 11. Jahrhundert begann sich die Gesellschaft in die Funktions-
gruppen der Arbeitenden, Betenden und Kämpfenden zu gliedern mit der Folge, daß
die Teistungen enorm optimiert wurden und der Druck auf den einzelnen Men-
schen außerordentlich anstieg. Daneben entstand als eine Art Reaktion em völlig
entgegengesetztes Gesellschaftsmodell, das von der Verpflichtung zur Nächstenliebe
und vom Gleichheitsstreben bestimmt war. Das sind Konstellationen, die man in
ähnlicher Weise in der Geschichte immer wieder antrifft. Heute sind sie uns in den
Ordnungsmodellen vom Kapitalismus und vom Kommunismus vertraut.
Nach der Ablehnung eines Rufs nach Köln 1993 übernahm ich 1994 die Pro-
fessur für Mittelalterliche Geschichte an der Universität München. Für diese Phase
meiner Forschungen, so kann ich es vielleicht umschreiben, rückte der Mensch in
den Mittelpunkt. Es ist der Mensch als Schnittpunkt kultureller Transmissionen, der
Mentalitäten und Strukturen seiner Zeit und seines Umfelds, der Mensch als Träger
von Erinnerung, Erkennen und Wissen. Der „Mensch“ meiner Forschungen war
insbesondere Kaiser Heinrich II., der um die erste Jahrtausendwende lebte und zu
Beginn des 11. Jahrhunderts die Königsherrschaft im Reich übernahm. Er diente
mir gleichsam als Spiegel der Gesellschaft seiner Zeit. Uber ihn suchte ich die Leit-
ideen zu bestimmen, von denen die Menschen vor tausend Jahren bewegt und in
ihrem Handeln geleitet wurden. Wie schon bei meinen Salierforschungen habe ich
auch hier versucht, die bildlichen Darstellungen und kunsthistorischen Objekte als
Mittelalter, sondern auch für die Neuzeit. Das war ungemein lehrreich für mich,
denn auf diese Weise konnte der Blick dafür geschärft werden, welche Impulse der
gesellschaftlichen und politischen Ordnung aus dem Mittelalter stärker in der Neu-
zeit weiterwirkten als andere. Daraus sind Arbeiten entstanden, die der longue duree
im Bereich der Verfassungsgeschichte gewidmet sind. Em zweiter Gewinn der Eich-
stätter Zeit lag für mich in der Vertiefung der vergleichenden landesgeschichtlichen
Methode. Um Ordnungskonfigurationen in bestimmten Gesellschaften bestimmen
zu können, muß man die gelebten Ordnungen gewissermaßen an der Basis kennen
und vergleichen. Der dritte Vorteil, den mir Eichstätt brachte, ergab sich aus der
engen Zusammenarbeit mit der Baugeschichte und der Stadt-Archäologie. Das
bedeutete für mich so etwas wie angewandte Mittelalterforschung. Die Verknüpfung
dieser Disziplinen erlaubt es vor allem, den „linguistic turn“, der leicht als ‘Toten-
gräber’ der historischen Methode wirken könnte, zu überwinden.
Meine nächste Station war die Universität Mainz, wo ich von 1987 bis 1994
die Professur für Mittelalter und Historische Hilfswissenschaften innehatte. Diese
Phase war wissenschaftlich vor allem einer Epoche gewidmet: der Zeit der salischen
Herrscherdynastie im 11. Jahrhundert. Im Zusammenhang mit der Salierausstellung
in Speyer wagte ich mich damals zusammen mit beinahe 50 Kolleginnen und Kol-
legen an eine völlige Neubearbeitung und Neubewertung dieses Zeitalters. Das
damals erarbeitete Bild einer epochalen Umbruch- und Schwellenzelt, die in ihrer
Tragweite für die europäische Geschichte vielleicht umwälzender war als die Fran-
zösische Revolution, fand in der Forschung durchwegs Bestätigung. Diese Arbeiten
haben vor allem gezeigt, daß in einer Gesellschaft verschiedene Ordnungskonfigura-
tionen nebeneinander wirksam waren und über längere Zeit miteinander konkur-
rieren konnten. Im 11. Jahrhundert begann sich die Gesellschaft in die Funktions-
gruppen der Arbeitenden, Betenden und Kämpfenden zu gliedern mit der Folge, daß
die Teistungen enorm optimiert wurden und der Druck auf den einzelnen Men-
schen außerordentlich anstieg. Daneben entstand als eine Art Reaktion em völlig
entgegengesetztes Gesellschaftsmodell, das von der Verpflichtung zur Nächstenliebe
und vom Gleichheitsstreben bestimmt war. Das sind Konstellationen, die man in
ähnlicher Weise in der Geschichte immer wieder antrifft. Heute sind sie uns in den
Ordnungsmodellen vom Kapitalismus und vom Kommunismus vertraut.
Nach der Ablehnung eines Rufs nach Köln 1993 übernahm ich 1994 die Pro-
fessur für Mittelalterliche Geschichte an der Universität München. Für diese Phase
meiner Forschungen, so kann ich es vielleicht umschreiben, rückte der Mensch in
den Mittelpunkt. Es ist der Mensch als Schnittpunkt kultureller Transmissionen, der
Mentalitäten und Strukturen seiner Zeit und seines Umfelds, der Mensch als Träger
von Erinnerung, Erkennen und Wissen. Der „Mensch“ meiner Forschungen war
insbesondere Kaiser Heinrich II., der um die erste Jahrtausendwende lebte und zu
Beginn des 11. Jahrhunderts die Königsherrschaft im Reich übernahm. Er diente
mir gleichsam als Spiegel der Gesellschaft seiner Zeit. Uber ihn suchte ich die Leit-
ideen zu bestimmen, von denen die Menschen vor tausend Jahren bewegt und in
ihrem Handeln geleitet wurden. Wie schon bei meinen Salierforschungen habe ich
auch hier versucht, die bildlichen Darstellungen und kunsthistorischen Objekte als