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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2015 — 2016

DOI Kapitel:
A. Das akademische Jahr 2015
DOI Kapitel:
II. Wissenschaftliche Vorträge
DOI Artikel:
Maul, Stefan M.: Politikberatung im Alten Orient oder Von Sinn und Unsinn der Prognostik
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55653#0048
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II. Wissenschaftliche Vorträge

Mächten zu rechtfertigen hatten. Aus diesem Grunde hatten sie mit ihrem po-
litischen Handeln nicht zuletzt auch der in religiösen Kontexten nachdrücklich
erhobenen Forderung nach sozialer Gerechtigkeit nachzukommen. Wurden mit
den hier beschriebenen Mitteln drohende Gefahren und damit auch ein grund-
sätzlicher Gotteszorn diagnostiziert, musste im engeren Umfeld eines Königs auch
dessen rituelles und persönliches Fehlverhalten sowie andere Handlungsweisen
und Taten zur Sprache gebracht werden, die die Götter verstimmt haben könnten.
Zahlreiche Texte zeigen uns, dass gerade der König dabei nicht selten mit der Er-
kenntnis konfrontiert wurde, Schuld auf sich geladen und die Götter herausgefor-
dert zu haben. Auch wenn uns hierfür ins Detail gehende schriftliche Quellen aus
naheliegenden Gründen fehlen, zeigt dies, dass die Diskussion einer ungünstigen
Zukunftsprognose sogar einen Freiraum schuf, in dem ein enger Kreis die Recht-
mäßigkeit königlichen Handelns hinterfragen konnte.
5. Die Astrologie, die in Permanenz unerbetene Zeichen und in der Folge in
Permanenz Prognosen generiert, zwingt dazu, die Prognosen permanent mit der
Gegenwartssituation abzugleichen und die Gegenwart am Prognostizierten zu
messen. In diesem Sinne erweist sich die Astrologie als ein Instrument, das nach
permanenter Reflexion politischen Handelns verlangt und so eine Atmosphäre
politischer Wachsamkeit hervorbringt. Die auf Himmelsbeobachtung beruhen-
den Prognosen, die für den neuassyrischen Königshof erstellt wurden, betrafen
die innere und äußere Sicherheit des Landes, oft auch Ernteaussichten und die
Versorgungssituation. Es liegt in der Natur der Sache, dass Visionen von Sicher-
heit und Bedrohung eines Landes nicht diskutiert, ja nicht einmal gedacht werden
können, ohne dass das Prognostizierte mit dem Gegenwärtigen verbunden würde.
Denn aus diesem würde sich ja das Zukünftige entfalten. Prognostiziertes Ver-
sagen und Unterliegen zwingt ohne notwendiges Besehen der verantwortlichen
Personen und ihres Einflusses zu einer immer wieder neuen Kontrolle der inne-
ren und äußeren Sicherheit, des Zustandes von Militär und Sicherheitskräften,
der Vertrauenswürdigkeit von Beratern und Verbündeten, der Versorgungssitua-
tion des Landes und vieler anderer Bereiche. In diesem Sinne ist die permanente
astrologische Analyse des zu Erwartenden in der Tat ein, wie unsere Texte sagen,
„Wachdienst für den Königs“. Sie erfüllt in gewissem Sinne die Funktion eines
politisch-gesellschaftlichen Frühwarnsystems, in dem Aufmerksamkeit auf Fehl-
entwicklungen schon im frühen Stadium gelenkt werden kann, noch bevor sich
schlimme Konsequenzen entwickelt haben. Ausgerechnet die aus dem Blickwin-
kel unseres Weltbildes gänzlich irrationalen Wahrsagekünste des Alten Orients
verlangten so nach einer regelmäßigen, durchaus vernunftgeleiteten Reflexion der
jeweils gegenwärtigen politischen, militärischen und ökonomischen Situation!
Die hier zusammengeführten Überlegungen dürften Ihnen, sehr verehrte
Damen und Herren, gezeigt haben, dass es kurzsichtig und unangemessen wäre,
die Wahrsagekunst des Alten Orients als Aberglaube und eine kulturgeschichtliche

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