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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2010 — 2011

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I. Das Geschäftsjahr 2010
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Sitzung der Phil.-hist. Klasse am 22. Januar 2010
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Engler, Bernd: Amerikanische Identitätspolitik im 17. und 18. Jahrhundert
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https://doi.org/10.11588/diglit.55658#0043
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22. Januar 2010 \ 59

eine zentrale Denkfigur des amerikanischen Selbstverständnisses in einer Weise zu
versinnbildlichen, die für breite Bevölkerungsschichten unterschiedlichster Herkunft
und unterschiedlichsten Bildungsgrades em hohes nationales Identifikationspotential
bot. Das Bild brachte eine Leitidee amerikanischer Realpolitik im 19. Jahrhundert
auf den Begriff, nämlich die Idee der providentiell vorherbestimmten Westexpan-
sion. Es antwortete auf ein politisches Legitimationsbedürfnis, insofern es die mit-
unter gewaltsame, in den 1870er Jahren aber schon weitgehend vollzogene
Erschließung des Westens zum Akt der Ausbreitung eines gottgewollten Fortschritts
stilisierte. In der Figur der Göttin Columbia schreiten die Kräfte des Lichts und
innovativer Technologien vom hell erleuchteten Osten — mit Manhattan und der
kurz vor der Vollendung stehenden Brooklyn Bridge — in den Bereich der Finster-
nis voran.
Das Bild konzipiert die Westexpansion — einer langen Tradition folgend — als
Akt der legitimen, ja gottgefälligen Landnahme,3 auch wenn oder gerade weil die
Vertreibung der Ureinwohner selbst Gegenstand der Darstellung ist. Gasts Gemälde
beschönigt allerdings die keineswegs gewaltfreie Siedlungspolitik der Kolonisten und
späterer Expansiomsten bewusst und folgt der Auffassung, dass die Kolonisierung
Amerikas — staatsrechtlich interpretiert —, die Besiedlung einer „terra nullius“ dar-
stelle, d.h. die Besiedlung eines leeren bzw. durch Nichtnutzung oder durch freiwil-
ligen Abzug der Ureinwohner entleerten Siedlungsraumes. Schon frühe englische
Propagandisten der Kolonisierung Amerikas, wie etwa Robert Cushman, einer der
frühen Siedler der Plymouth Plantation, hatten sich auf diese Interpretation bezo-
gen, wenn sie in Rechtfertigungsschriften betonten, dass Amerika „spacious and
void“ bzw. ein „vast and emptie Chaos“ sei und damit von europäischen Siedlern
rechtmäßig als Eigentum reklamiert werden könne. Die Indianer hätten das Recht
auf das ihnen zunächst von Gott überantwortete Land verwirkt, da sie es nicht dem
Gebot Gottes folgend nutzten, „but [doe] run over the grasse, as doe also the Foxes
and wilde beasts“.4 350 Jahre später finden sich noch dieselben Legitimationsstrate-
gien: In Gasts Darstellung werden die Ureinwohner nicht etwa durch kriegerische
Aktivitäten der Siedler vertrieben, sondern sie fliehen — wie die wilden Tiere — aus
einem agrarisch nicht genutzten Land in einem Gestus freiwilliger Unterwerfung
vor der Göttin Columbia.
Worauf es mir bei der einleitenden Betrachtung des Gastschen Gemäldes indes
vorrangig ankommt, sind weniger Details der Legitimierung der im 19. Jahrhundert

3 Michael Draytons Ode „To the Virginian Voyage“ adressiert künftige Amerikareisende mit dem
Reisemotto: „goe, and subdue [the continent]“. Mit der Rückbindung dieses Auftrags an Gene-
sis 1,28 („Be fruitful, and multiply, and replenish the earth, and subdue it [...]“) bot er den ange-
sprochenen „brave heroic minds“ zugleich eine wirkmächtige Formel der Legitimation der
Kolonisierung, die bis ins ausgehende 19. Jahrhundert ein hohes Maß an Überzeugungskraft
beanspruchen konnte.
4 Robert Cushman, „Reasons & Considerations Touching the Lawfulnesse of Removing out of
England into the Parts of America“, publiziert in: A Relation or lournall of the Beginning and Pro-
ceedings of the English Plantation Setled at Plimoth in New England [...], London, 1622, 69.
 
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