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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2010 — 2011

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I. Das Geschäftsjahr 2010
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Gesamtsitzung am 23. Januar 20
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Rosenberg, Raphael: Dem Auge auf der Spur: Blickbewegungen beim Betrachten von Gemälden – historisch und empirisch
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https://doi.org/10.11588/diglit.55658#0070
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SITZUNGEN

Blicksprünge werden deutlich länger (bis zu 45% länger), während die Fixations-
dauer abnimmt (um rund 20%). Was also passiert während der Beschreibung eines
Kunstwerkes, das bereits länger betrachtet wurde? Wir nehmen an, dass man zuerst
mental das Bild auf der Grundlage der Erinnerung strukturiert — die Psychologen
sprechen von mnemonic representation. In einem zweiten Schritt überprüfen wir mit
den Augen die erinnerte Struktur. In einem dritten produzieren wir schließlich
Sprachlaute. Das würde erklären, dass wir während der Sprechphase strukturbilden-
de Sakkaden häufiger wiederholen, weil wir beim Beschreiben direkt oder indirekt
über die Struktur sprechen, dass wir größere Blicksprünge machen, weil wir schon
wissen, worüber wir reden wollen und wir schließlich deutlich kürzer auf einzelnen
Stellen des Gemäldes verweilen, weil wir uns lediglich vergewissern, dass das Ge-
mälde so ist, wie wir es erinnern.
Die historische Perspektive. Um 1900 nehmen viele Kunsthistoriker an, dass stili-
stische Unterschiede zwischen Kunstwerken — etwa zwischen Renaissance und
Barock — von unterschiedlichen Sichtweisen bedingt sind. Dies rührte von der
Annahme her, dass Künstler die Welt so darstellen würden, wie sie sie sehen. Diese
Überlegungen wurden im frühen 20. Jahrhundert öfters ausgesprochen, damals
jedoch weder theoretisch fundiert noch gar empirisch überprüft. Ernst Gombrich
hat deutlich gemacht, wie sehr diese Annahme naiv ist, da Bilder nie eine direkte
Umsetzung von Gesehenem sind.13 Michael Baxandall, ein Doktorand von Gom-
brich, hat em komplexeres Modell entwickelt, das die Kunstgeschichte als Geschich-
te des Sehens wieder diskussionsfähig macht. Baxandall führt die Begriffe period eye
und cognitive style ein und meint damit, dass bestimmten sozialen Gruppen an
bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten spezifische Sichtweisen eigen sind, die
von kulturellen Faktoren geprägt werden. Exemplarisch ist seine Gegenüberstellung
von Florenz und Deutschland im 15. Jahrhundert. Baxandall weist daraufhin, dass
Florentiner Kaufleute damals einen intensiven Geometrieunterricht erhielten, um sie
darauf vorzubereiten, mit dem Augenmaß den Inhalt von Gefäßen abzuschätzen.
Dies machte sie - so Baxandall - besonders empfänglich für zentralperspektivische,
d.h. für nach geometrischen Regeln konstruierte Bilder. Demgegenüber nahm zeit-
gleich in Deutschland der Unterricht in Kalligraphie samt kunstvollen Schnörkeln
eine wichtige gesellschaftliche Rolle ein. Dies war nach Ansicht von Baxandall eine
entscheidende Voraussetzung für die Kultur der kunstvollen Faltengebung, die in der
deutschen Holzbildhauerei der Spätgotik eine große Rolle spielt.14 Baxandalls faszi-
nierende Thesen lassen sich mit den traditionellen Mitteln des Historikers weder
verifizieren noch falsifizieren. Empirische Messungen könnten aber eine Lösung bie-
ten. Ich gehe davon aus, dass man mittels Eye-tracking wird feststellen können,
inwiefern der kulturelle Hintergrund sich auf die Kunstbetrachtung auswirkt. Zwar

13 Ernst H. Gombrich, Art and Illusion, New York 1960.
14 Michael Baxandall, Painting and experience inßfteenth Century Italy. A primer in the social history of
pictorial style, Oxford 1972; Ders., 77/<? limewood sculptors oj Renaissance Germany, New Haven,
Gönn. 1980.
 
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