122 | SITZUNGEN
Das Mittelmeer, vor allem aber die Darstellung des Mittelmeers zerfällt in zwei
Trennungslinien — eine zwischen Norden und Süden, die andere zwischen Westen
und Osten.
Bereits im 8. Jahrhundert hat sich eine politische Grenze zwischen islamischer
und europäischer Welt stabilisiert; sie kann im Grossen und Ganzen mit Hilfe einer
halb sichtbaren, halb unsichtbaren Demarkationslinie durch Mittelmeer in seiner
gesamten west-östlichen Ausdehnung gezogen werden. Die so offensichtliche
Grenzlinie hat berühmte Fürsprecher gefunden: Henri Pirenne sieht in seinem Buch
Mahomet et Charlemagne von 1937 einen grundlegenden Unterschied zwischen der
Völkerwanderung der Germanen, die sich an die römische Mittelmeerkultur weit-
gehend assimiliert hätten, und den Muslimen, die ihre eigene Kultur und Religion
den eroberten Völkern auferlegt hätten: Ein Riss sei entstanden, der bis heute fort-
dauere. Am Rand des Mittelmeers lebten seit dem 7. Jahrhundert zwei verschiede-
ne, sich feindliche Kulturen. Aus dem mare nostrum wurde, folgt man Pirenne, ein
Meer, das nun von mehreren gemeinsam, aber gegen ihren Willen geteilt wurde.
Die Folge dieser in unseren Köpfen so fest verankerten Wahrnehmung ist, dass
es zahlreiche Geschichten des christlich geprägten Mittelmeers gibt, aber eigentlich
keine umfassenden Darstellungen der Mittelmeergeschichte, die die islamischen
Anteile gleichberechtigt berücksichtigen würden. Das Anliegen, das Mittelmeer als
eine Einheit zu erfassen, gerät jedoch nicht nur angesichts der christlich-islamischen
Trennlinie außer Blick, sondern auch angesichts der Schwierigkeit, die östlichen und
westlichen Teile der islamischen Mittelmeergeschichte gemeinsam fassen zu können.
So wäre es wichtig und hilfreich, al-Andalus und das Osmanische Reich, die beiden
Pole der islamischen Mittelmeerwelt in der Frühen Neuzeit, in eine produktive Ver-
bindung zu setzen.
Die beiden einzigen wirklich entscheidenden Veränderungen seit dem 8. Jahr-
hundert bis in die Neuzeit hinein (ich lasse jetzt mit etwas Nonchalance Fälle wie
Sizilien oder Kreta beiseite) sind der Rückzug des Islams aus der iberischen Halb-
insel und das Vordringen der muslimischen Türken nach Kleinasien ab dem 11. Jahr-
hundert und in einem zweiten Satz nach Südosteuropa.3 * 5
Dass so selten eine direkte Verbindung zwischen diesen beiden Polen al-
Andalus und Osmanisches Reich gezogen wird, ist auf wissenschaftsgeschichtliche
Gründe (Spezialisten für die Geschichte von al-Andalus und des Osmanischen
Reiches haben sich in der Regel nicht viel zu sagen) zurückzuführen, aber auch
dem ,,Sonderstatus“ von al-Andalus geschuldet. Die Symbiose von jüdischer und
arabischer Kultur im arabisch geprägten Islam des Mittelalters, mit ihrer stärksten
Ausprägung sicherlich in al-Andalus, kommt den Mustern der Existenz moderner
jüdischer Gemeinden in den westeuropäischen Ländern und Nordamerika nahe.
3 Unvollendet bleibt die Islamisierung Südosteuropas, aber — dies im Gegensatz zur Radikalität der
Ausstoßung der Juden und Muslime aus der Iberischen Halbinsel vom 15. bis zum 17. Jahrhun-
dert — ebenso die Deislamisierung Südosteuropas nach dem Zusammenbruch der osmanischen
Herrschaft.
Das Mittelmeer, vor allem aber die Darstellung des Mittelmeers zerfällt in zwei
Trennungslinien — eine zwischen Norden und Süden, die andere zwischen Westen
und Osten.
Bereits im 8. Jahrhundert hat sich eine politische Grenze zwischen islamischer
und europäischer Welt stabilisiert; sie kann im Grossen und Ganzen mit Hilfe einer
halb sichtbaren, halb unsichtbaren Demarkationslinie durch Mittelmeer in seiner
gesamten west-östlichen Ausdehnung gezogen werden. Die so offensichtliche
Grenzlinie hat berühmte Fürsprecher gefunden: Henri Pirenne sieht in seinem Buch
Mahomet et Charlemagne von 1937 einen grundlegenden Unterschied zwischen der
Völkerwanderung der Germanen, die sich an die römische Mittelmeerkultur weit-
gehend assimiliert hätten, und den Muslimen, die ihre eigene Kultur und Religion
den eroberten Völkern auferlegt hätten: Ein Riss sei entstanden, der bis heute fort-
dauere. Am Rand des Mittelmeers lebten seit dem 7. Jahrhundert zwei verschiede-
ne, sich feindliche Kulturen. Aus dem mare nostrum wurde, folgt man Pirenne, ein
Meer, das nun von mehreren gemeinsam, aber gegen ihren Willen geteilt wurde.
Die Folge dieser in unseren Köpfen so fest verankerten Wahrnehmung ist, dass
es zahlreiche Geschichten des christlich geprägten Mittelmeers gibt, aber eigentlich
keine umfassenden Darstellungen der Mittelmeergeschichte, die die islamischen
Anteile gleichberechtigt berücksichtigen würden. Das Anliegen, das Mittelmeer als
eine Einheit zu erfassen, gerät jedoch nicht nur angesichts der christlich-islamischen
Trennlinie außer Blick, sondern auch angesichts der Schwierigkeit, die östlichen und
westlichen Teile der islamischen Mittelmeergeschichte gemeinsam fassen zu können.
So wäre es wichtig und hilfreich, al-Andalus und das Osmanische Reich, die beiden
Pole der islamischen Mittelmeerwelt in der Frühen Neuzeit, in eine produktive Ver-
bindung zu setzen.
Die beiden einzigen wirklich entscheidenden Veränderungen seit dem 8. Jahr-
hundert bis in die Neuzeit hinein (ich lasse jetzt mit etwas Nonchalance Fälle wie
Sizilien oder Kreta beiseite) sind der Rückzug des Islams aus der iberischen Halb-
insel und das Vordringen der muslimischen Türken nach Kleinasien ab dem 11. Jahr-
hundert und in einem zweiten Satz nach Südosteuropa.3 * 5
Dass so selten eine direkte Verbindung zwischen diesen beiden Polen al-
Andalus und Osmanisches Reich gezogen wird, ist auf wissenschaftsgeschichtliche
Gründe (Spezialisten für die Geschichte von al-Andalus und des Osmanischen
Reiches haben sich in der Regel nicht viel zu sagen) zurückzuführen, aber auch
dem ,,Sonderstatus“ von al-Andalus geschuldet. Die Symbiose von jüdischer und
arabischer Kultur im arabisch geprägten Islam des Mittelalters, mit ihrer stärksten
Ausprägung sicherlich in al-Andalus, kommt den Mustern der Existenz moderner
jüdischer Gemeinden in den westeuropäischen Ländern und Nordamerika nahe.
3 Unvollendet bleibt die Islamisierung Südosteuropas, aber — dies im Gegensatz zur Radikalität der
Ausstoßung der Juden und Muslime aus der Iberischen Halbinsel vom 15. bis zum 17. Jahrhun-
dert — ebenso die Deislamisierung Südosteuropas nach dem Zusammenbruch der osmanischen
Herrschaft.