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VERANSTALTUNGEN
großen Gerichtsrede die Gastfreundschaft, vor allem die Gastfreundschaft gegenüber
Verfolgten, gepriesen und sie zu einem Kriterium im Gericht gemacht (Mt 25,35—
43).
An dieser Stelle wird das Evangelium zu einer kritischen Anfrage: Wie sieht es
mit unserer Gastfreundschaft für bedrängte und verfolgte Menschen aus? Ich weiß
aus Erfahrung, dass sich hier schwierige Probleme und Konflikte auftun können, ich
weiß aus Erfahrung aber auch, dass in vielen Fällen bei gutem Willen auf allen Sei-
ten menschlich erträgliche Lösungen gefunden werden können. Die Frage der Gast-
freundschaft ist für Christen umso drängender, weil Christen in vielen Teilen der
Welt selbst Fremde sind; das Fremdsein ist sozusagen ein Grundexistential des
Christseins, und es gibt gegenwärtig mehr als eine Situation, in denen auch Christen
in und unter anderen Kulturen in schwerer Bedrängnis leben und unsere Solidarität
dringend brauchen.
Aber der Gaststatus hat zwei Seiten. Als Gast aufgenommen und angenommen
zu werden schließt ein, dass ich mich nach der Hausordnung des Gastgebers zu rich-
ten habe. Erst recht, wenn ich in einem fremden Land nicht nur Gast- sondern Bür-
gerrecht erhalte, dann begründet das Rechte wie Pflichten. Sie einzufordern hat
nichts mit Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit zu tun, sondern auch mit Selbstach-
tung und mit unserem Recht, nach unserer Kultur zu leben, sie zu bewahren und
sie auch weiterzuentwickeln. Dabei kann uns die Begegnung mit anderen Kulturen
helfen.
Das führt abschließend zum Kern des interreligiösen Dialogs zurück. Dialog
setzt Partner voraus, die jeweils ihre Identität haben, die Identität aber nicht als eine
in sich geschlossene und verschlossene Monade verstehen, sondern als eine offene
Identität, die sich auf dem Weg des Dialogs und des Austauschs verwirklicht. Recht
verstandene christliche Identität ist keine ängstlich in sich verschlossene, sich in eine
Wagenburg flüchtende Identität oder ein engstirniger Chauvinismus, sondern eine
für den anderen offene, sich auf den anderen hm überschreitende Identität, ja eine
sich mit dem anderen als einem anderem identifizierende Identität. Aber indem sie
sich mit dem anderen identifiziert gibt sie die eigene Identität nicht auf, sie ver-
wirklicht, klärt und vertieft sie und wird dadurch umgekehrt, selbst auch vom andern
bereichert.19
Die Wahrheitsfrage zu stellen, schließt also den Dialog nicht aus, sie eröffnet ihn
erst in seinem in die Tiefe gehenden Sinn. Er ist mehr als ein höfliches aber unver-
bindliches Gespräch und ein freundliches Interesse. Es geht auch nicht um einen sen-
timentalen Synkretismus, der sich, wenn es denn nötig ist, vor der Konfrontation
19 Das dialogische Denken findet sich in gewissen Sinn schon bei Sokrates und Platon; es stellt
einen wichtigen Strom neuzeitlichen Denkens dar bei Hamann, Herder und Jacobi, beim frühen
Fichte, Schelling und Hegel und dann wieder bei Feuerbach. Die jüngere dialogische Philoso-
phie bei M. Buber, F. Ebner, F. Rosenzweig u.a. hat also ältere Wurzeln. Sie findet sich auch bei
Denker wie R. Guardim, G. Marcel, O. F. Bollnow, H. G. Gadamer, J. Habermas, E. Levinas u.a.
Vgl.J. Henrichs, Art. Dialog, dialogisch, in HWPh Bd. 2, 1972, 226—229.
VERANSTALTUNGEN
großen Gerichtsrede die Gastfreundschaft, vor allem die Gastfreundschaft gegenüber
Verfolgten, gepriesen und sie zu einem Kriterium im Gericht gemacht (Mt 25,35—
43).
An dieser Stelle wird das Evangelium zu einer kritischen Anfrage: Wie sieht es
mit unserer Gastfreundschaft für bedrängte und verfolgte Menschen aus? Ich weiß
aus Erfahrung, dass sich hier schwierige Probleme und Konflikte auftun können, ich
weiß aus Erfahrung aber auch, dass in vielen Fällen bei gutem Willen auf allen Sei-
ten menschlich erträgliche Lösungen gefunden werden können. Die Frage der Gast-
freundschaft ist für Christen umso drängender, weil Christen in vielen Teilen der
Welt selbst Fremde sind; das Fremdsein ist sozusagen ein Grundexistential des
Christseins, und es gibt gegenwärtig mehr als eine Situation, in denen auch Christen
in und unter anderen Kulturen in schwerer Bedrängnis leben und unsere Solidarität
dringend brauchen.
Aber der Gaststatus hat zwei Seiten. Als Gast aufgenommen und angenommen
zu werden schließt ein, dass ich mich nach der Hausordnung des Gastgebers zu rich-
ten habe. Erst recht, wenn ich in einem fremden Land nicht nur Gast- sondern Bür-
gerrecht erhalte, dann begründet das Rechte wie Pflichten. Sie einzufordern hat
nichts mit Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit zu tun, sondern auch mit Selbstach-
tung und mit unserem Recht, nach unserer Kultur zu leben, sie zu bewahren und
sie auch weiterzuentwickeln. Dabei kann uns die Begegnung mit anderen Kulturen
helfen.
Das führt abschließend zum Kern des interreligiösen Dialogs zurück. Dialog
setzt Partner voraus, die jeweils ihre Identität haben, die Identität aber nicht als eine
in sich geschlossene und verschlossene Monade verstehen, sondern als eine offene
Identität, die sich auf dem Weg des Dialogs und des Austauschs verwirklicht. Recht
verstandene christliche Identität ist keine ängstlich in sich verschlossene, sich in eine
Wagenburg flüchtende Identität oder ein engstirniger Chauvinismus, sondern eine
für den anderen offene, sich auf den anderen hm überschreitende Identität, ja eine
sich mit dem anderen als einem anderem identifizierende Identität. Aber indem sie
sich mit dem anderen identifiziert gibt sie die eigene Identität nicht auf, sie ver-
wirklicht, klärt und vertieft sie und wird dadurch umgekehrt, selbst auch vom andern
bereichert.19
Die Wahrheitsfrage zu stellen, schließt also den Dialog nicht aus, sie eröffnet ihn
erst in seinem in die Tiefe gehenden Sinn. Er ist mehr als ein höfliches aber unver-
bindliches Gespräch und ein freundliches Interesse. Es geht auch nicht um einen sen-
timentalen Synkretismus, der sich, wenn es denn nötig ist, vor der Konfrontation
19 Das dialogische Denken findet sich in gewissen Sinn schon bei Sokrates und Platon; es stellt
einen wichtigen Strom neuzeitlichen Denkens dar bei Hamann, Herder und Jacobi, beim frühen
Fichte, Schelling und Hegel und dann wieder bei Feuerbach. Die jüngere dialogische Philoso-
phie bei M. Buber, F. Ebner, F. Rosenzweig u.a. hat also ältere Wurzeln. Sie findet sich auch bei
Denker wie R. Guardim, G. Marcel, O. F. Bollnow, H. G. Gadamer, J. Habermas, E. Levinas u.a.
Vgl.J. Henrichs, Art. Dialog, dialogisch, in HWPh Bd. 2, 1972, 226—229.