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Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2010 — 2011

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I. Das Geschäftsjahr 2010
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Seibel, Wolfgang: Antrittsrede von Herrn Wolfgang Seibel an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften vom 23. Januar 2010
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https://doi.org/10.11588/diglit.55658#0189
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Wolfgang Seibel

205

Antrittsrede von Herrn WOLFGANG SEIBEL
an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften vom 23. Januar 2010.

Herr Präsident,
meine sehr verehrten Damen und Herren!
Ich bin Politik- und Verwaltungswissenschaftler. Das
war mir weder vom Fach noch vom heutigen Status her
in die Wiege gelegt. Die stand am Fuße eines der Aus-
läufer des Weserberglandes, am Deister, wo ich gegen
Ende des Jahres 1953 geboren wurde. Meine Geschwi-
ster und ich, wir waren die erste Generation in der
Familie, die Abitur machte und studierte, von höheren
akademischen Weihen ganz zu schweigen. Allerdings
eher pragmatischen als bildungsbürgerlichen Auffassung,
wir sollten eine humanistische Schulausbildung genießen, denn Französisch und
Englisch, das lerne man ja sowieso noch im späteren Leben, aber mit Latein und
Griechisch seien die Gehirnwindungen dafür und für vieles anderes mehr gut ein-
gespurt. 1972 habe ich am Gymnasium Philippinum in Weilburg an der Lahn mein
Abitur gemacht.
Vom Geburtsjahrgang her bin ich offensichtlich kein ’68er, aber als ich mein
Studium aufnahm — zunächst in Gießen, ab dem dritten Semester dann in Marburg
— hatte die Universität in den vier bis fünf Jahren davor wohl tatsächlich eine Kul-
turrevolution durchlebt. Die Philipps-Universität Marburg war ja eine typische
Ordinarienuniversität gewesen, nun aber war es eine Hochburg der radikalen Lin-
ken. Dieses Schicksal soll ja auch andere, altehrwürdige Universitäten, die den
Namen ihres frühneuzeitlichen Stifters tragen, ereilt haben. Und ich studierte nun
neben der Germanistik auch noch Politikwissenschaft. Wolfgang Abendroth war
gerade emeritiert worden, aber seine marxistischen Schüler gaben den Ton an und
einige unter ihnen — Frank Deppe möchte ich hier nennen — waren unbestechliche
Intellektuelle mit großer Vorbildwirkung.
Man hätte es in Marburg nicht unbedingt erwartet, aber: So kam ich zur Ver-
waltungswissenschaft. Es galt damals unter den marxistischen Kanonikern schon als
unorthodox, wenn man sich mit der strukturalistischen Marx-Interpretation von
Louis Althusser oder mit der politischen Theorie Antonio Gramscis befasste. Das
interessierte mich, vor allem Althussers Konzept der ideologischen Staatsapparate
und Gramscis Bild vom Staat als Garant einer hegemonialen Ordnung nach Innen,
bei der die strukturellen Differenzierungen der politischen Ordnung und der Zivil-
gesellschaft — ein Begriff der tatsächlich auf Gramsci zurückgeht - eng miteinander
verflochten und durch sogenannte organische Intellektuelle, die für den notwendi-
gen ideologischen Schmierstoff sorgen, integriert würden. Da konnte, wer zwischen
den Zeilen las, nicht nur die wesentlichen Elemente der Diskurstheorie Michel
Foucaults erkennen, sondern, wer sich in der staatsrechtlichen Ideengeschichte aus-
 
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