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SITZUNGEN
Doch ist der unvermittelte Zusammenbruch von Lehman Brothers kein ein-
zigartiges Phänomen. Im März 2008 erlitt die Investitionsbank Bear Stearns das
gleiche Schicksal. Am 12. März entstand in New Yorker Finanzkreisen das Gerücht,
dass Bear Stearns nicht in der Lage sei, ein an und für sich einfaches Kreditabsiche-
rungsgeschäft abzuwickeln. Dieses Gerücht stellte sich kurz darauf als falsch heraus,
weil ein Händler einer Gegenpartei am Abend vorher einfach früher nach Hause
gegangen war und das Geschäft deswegen nicht mehr ordnungsgemäß gebucht
werden konnte. Dennoch brach die Kreditversorge von Bear Stearns zusammen, am
13. März bekam die Bank kaum noch Finanzierung am kurzfristigen Interbanken-
markt, und am 14.—16. März wurde sie unter aktiver Einbeziehung der New Yorker
Zentralbank vom Konkurrenten JP Morgen Chase aufgekauft, um den formalen
Konkurs zu verhindern. Der Kaufpreis von Bear Stearns, die im Juli 2007 noch über
16 Milliarden Dollar wert gewesen war, betrug 236 Millionen Dollar, was einen
Wertverlust von über 98 Prozent bedeutete.
Auch Bearn Stearns, die kleinste der großen New Yorker Investitionsbanken,
galt als riskant aber im Prinzip als ungefährdet. Der Vorsitzende der amerikanischen
Wertpapieraufsichtsbehörde [Securities and Exchange Commission), Christopher Cox,
stellte in einer Anhörung am 20. März 2008 fest: “At all times until its agreement to
be acquired by JP Morgan Chase during the weekend, the firm had a Capital cush-
lon well above what is required to meet supervisory Standards calculated using the
Basel II Standard.“
Bear Stearns und Lehman Brothers sind die beiden bekanntesten Beispiele für
das plötzliche Vertrocknen von Finanzierungsquellen in der Großen Finanzkrise. Es
gibt weitere, weniger bedeutende Fälle und vor allem auch die undokumentierten
Fälle „der Hunde, die nicht bellen“. In diesen Fällen gerieten Marktteilnehmer
unvermittelt unter plötzlichen Druck wegen des massiven Abzuges kurzfristiger
Finanzierung, konnten diesem Druck aber aus eigener Kraft widerstehen. Der
bekannteste dieser Fälle ist der von Sorkin (2009) in seinem Buch „Too Big To Fail“
beschriebene Fall von Goldmann Sachs, einer anderen großen New Yorker Investi-
tionsbank. Am 17. September erhielt die Bank ohne Unterlass Anfragen großer
Investoren, entweder ihre Anlagen zurück zu zahlen oder sofort telefonisch Kontakt
aufzunehmen. Entgegen dem Anraten seiner Manager ordnete der Kopräsident der
Bank, G. Cohn, an, alle diese Anfragen nicht zu beantworten, sondern kommentar-
los und sofort zu zahlen. Nachdem die Bank in kurzer Zeit auf diese Weise Milliar-
den Dollar ausgezahlt hatte, ebbten die Anfragen ab, das meiste Geld floss sogar
wieder zurück, und Goldmann Sachs überstand die Finanzkrise ohne weitere
Schwierigkeiten.
Wie kann es zu solchen plötzlichen kollektiven Veränderungen des Verhaltens
von Marktteilnehmern kommen, das in manchen Fällen katastrophale Folgen hat
und in anderen relativ harmlos verläuft? Anders als die naturwissenschaftliche Kata-
strophentheorie, die im Wesentlichen auf Singularitäten nicht-linearer Differential-
gleichungen zur Beschreibung von mechanistischen Vielteilchensystemen abstellt,
haben die Wirtschaftswissenschaften es mit Systemen intelligenter Individuen zu tun,
die das Verhalten anderer in Betracht ziehen und ihren eigenen Vorteil suchen. Dies
SITZUNGEN
Doch ist der unvermittelte Zusammenbruch von Lehman Brothers kein ein-
zigartiges Phänomen. Im März 2008 erlitt die Investitionsbank Bear Stearns das
gleiche Schicksal. Am 12. März entstand in New Yorker Finanzkreisen das Gerücht,
dass Bear Stearns nicht in der Lage sei, ein an und für sich einfaches Kreditabsiche-
rungsgeschäft abzuwickeln. Dieses Gerücht stellte sich kurz darauf als falsch heraus,
weil ein Händler einer Gegenpartei am Abend vorher einfach früher nach Hause
gegangen war und das Geschäft deswegen nicht mehr ordnungsgemäß gebucht
werden konnte. Dennoch brach die Kreditversorge von Bear Stearns zusammen, am
13. März bekam die Bank kaum noch Finanzierung am kurzfristigen Interbanken-
markt, und am 14.—16. März wurde sie unter aktiver Einbeziehung der New Yorker
Zentralbank vom Konkurrenten JP Morgen Chase aufgekauft, um den formalen
Konkurs zu verhindern. Der Kaufpreis von Bear Stearns, die im Juli 2007 noch über
16 Milliarden Dollar wert gewesen war, betrug 236 Millionen Dollar, was einen
Wertverlust von über 98 Prozent bedeutete.
Auch Bearn Stearns, die kleinste der großen New Yorker Investitionsbanken,
galt als riskant aber im Prinzip als ungefährdet. Der Vorsitzende der amerikanischen
Wertpapieraufsichtsbehörde [Securities and Exchange Commission), Christopher Cox,
stellte in einer Anhörung am 20. März 2008 fest: “At all times until its agreement to
be acquired by JP Morgan Chase during the weekend, the firm had a Capital cush-
lon well above what is required to meet supervisory Standards calculated using the
Basel II Standard.“
Bear Stearns und Lehman Brothers sind die beiden bekanntesten Beispiele für
das plötzliche Vertrocknen von Finanzierungsquellen in der Großen Finanzkrise. Es
gibt weitere, weniger bedeutende Fälle und vor allem auch die undokumentierten
Fälle „der Hunde, die nicht bellen“. In diesen Fällen gerieten Marktteilnehmer
unvermittelt unter plötzlichen Druck wegen des massiven Abzuges kurzfristiger
Finanzierung, konnten diesem Druck aber aus eigener Kraft widerstehen. Der
bekannteste dieser Fälle ist der von Sorkin (2009) in seinem Buch „Too Big To Fail“
beschriebene Fall von Goldmann Sachs, einer anderen großen New Yorker Investi-
tionsbank. Am 17. September erhielt die Bank ohne Unterlass Anfragen großer
Investoren, entweder ihre Anlagen zurück zu zahlen oder sofort telefonisch Kontakt
aufzunehmen. Entgegen dem Anraten seiner Manager ordnete der Kopräsident der
Bank, G. Cohn, an, alle diese Anfragen nicht zu beantworten, sondern kommentar-
los und sofort zu zahlen. Nachdem die Bank in kurzer Zeit auf diese Weise Milliar-
den Dollar ausgezahlt hatte, ebbten die Anfragen ab, das meiste Geld floss sogar
wieder zurück, und Goldmann Sachs überstand die Finanzkrise ohne weitere
Schwierigkeiten.
Wie kann es zu solchen plötzlichen kollektiven Veränderungen des Verhaltens
von Marktteilnehmern kommen, das in manchen Fällen katastrophale Folgen hat
und in anderen relativ harmlos verläuft? Anders als die naturwissenschaftliche Kata-
strophentheorie, die im Wesentlichen auf Singularitäten nicht-linearer Differential-
gleichungen zur Beschreibung von mechanistischen Vielteilchensystemen abstellt,
haben die Wirtschaftswissenschaften es mit Systemen intelligenter Individuen zu tun,
die das Verhalten anderer in Betracht ziehen und ihren eigenen Vorteil suchen. Dies